OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.01.2014 - 3 N 59.13 (= ASYLMAGAZIN 5/2014, S. 168 f.) - asyl.net: M21650
https://www.asyl.net/rsdb/M21650
Leitsatz:

Ein Visum zum Familiennachzug ist auch ohne Sicherung des Lebensunterhalts zu erteilen, wenn der hier lebende Ehegatte aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, den Lebensunterhalt sicherzustellen und den Eheleuten ein Zusammenleben in einem anderen Land nicht möglich ist.

Der Leistungsbezug nach dem SGB II und nicht nach dem SGB XII und die damit verbundene Annahme grundsätzlicher Erwerbsfähigkeit besagt noch nichts Konkretes über die maßgebliche weitergehende Befähigung zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Schlagwörter: Allgemeine Verwaltungsvorschriften, Aufenthaltstitel, Familiennachzug, Sicherung des Lebensunterhalts, Ehegattennachzug, Krankheit, Sozialleistungen, Sozialhilfebezug, SGB II, SGB XII, Schwerbehinderung, erwerbsfähig,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 29 Abs. 2 S. 1, SGB II § 31 Abs. 2, SGB II § 31a,
Auszüge:

[...]

Sie macht indes geltend, der Ehemann müsse, um eine Ausnahme von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu bejahen, zumutbare Bemühungen zur Sicherung des Lebensunterhalts entfalten und diese im gerichtlichen Verfahren nachweisen oder dartun, warum sie ihm nicht möglich seien. Zur Begründung nimmt sie Bezug auf Abschnitt 29.2.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 (GMBl. S. 878).

Der besagte Abschnitt bezieht sich allerdings schon nicht auf die aus Sicht des Verwaltungsgerichts streitentscheidende - von ihm bejahte - Frage, ob eine Ausnahme von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG vorliege, sondern setzt voraus, dass keine derartige Ausnahme bestehe, und äußert sich dazu, unter welchen Umständen nichtsdestoweniger gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG von den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG im Ermessenswege abgesehen werden kann.

Soweit die Allgemeine Verwaltungsvorschrift an der von der Beklagten bezeichneten Stelle ferner nachhaltige Bemühungen um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit fordert, erlaubt der Charakter als allgemein gehaltene Anleitung in erster Linie grundsätzliche Erwägungen, die die Besonderheiten des Einzelfalls nicht berücksichtigen können. Das Verwaltungsgericht hat im Einzelfall die Schwerbehinderung des Ehemannes der Klägerin und die daraus folgenden sehr geringen Erwerbsmöglichkeiten in den Vordergrund gestellt. Dem kann mit dem Hinweis auf die Verwaltungsvorschrift noch nicht durchgreifend begegnet werden.

Das Verwaltungsgericht hat weitergehend festgestellt, der Ehemann wäre selbst bei gehöriger Anstrengung nicht in der Lage, den Lebensunterhalt zu sichern (vgl. Urteilsabdruck S. 7: "... bei gehöriger Anstrengung in der Lage wäre, den Lebensunterhalt zu sichern. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben."). Mit dieser - von der undatierten Stellungnahme der Deutschen Angestellten-Akademie GmbH über die Zusammenarbeit mit dem Kläger seit September 2011 gestützten ("... Herr A. ist sehr engagiert und zeigt seinen Willen Arbeit aufzunehmen. Es liegt nicht in seiner Verantwortung, eine Arbeitsstelle zu bekommen, vielmehr ist er durch seine medizinische Situation stark eingeschränkt") - Feststellung setzt sich die Rüge der Beklagten nicht hinlänglich auseinander, es liege nahe, von dem Ehemann zu verlangen, dass er Bemühungen in Bezug auf eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit entfalte. Dass der Ehemann im Leistungsbezug nach dem SGB II und nicht nach dem SGB XII stehe, hat das angefochtene Urteil in dem Zusammenhang nicht verkannt. Die damit aus Sicht der Beklagten verbundene Annahme grundsätzlicher Erwerbsfähigkeit besagt indes noch nichts Konkretes über die nach der Auffassung des Verwaltungsgerichts maßgebliche - weitergehende - Befähigung zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Das Verwaltungsgericht hat weiter ausgeführt, es fehlten jedenfalls Hinweise auf Pflichtverletzungen im Sinne des § 31 Abs. 2 SGB II. Anzunehmen sei, die zuständige Sozialbehörde wäre gegen den Ehemann etwa nach § 31a SGB II vorgegangen, wenn er sich einer zumutbaren Arbeit verweigert hätte. Warum die Berücksichtigung des Umstands ausgebliebener Sanktionen nach § 31 ff. SGB II, auf den in Zusammenhang mit der Visumerteilung aus familiären Gründen auch die jüngere höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abstellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12-. InfAuslR 2013, 364 = juris Rn. 33), rechtsfehlerhaft sei, legt die Beklagte mit ihrer - schon das erstinstanzlich festgestellte Unvermögen zur Sicherung des Lebensunterhalts selbst bei gehöriger Anstrengung nicht hinreichend berücksichtigenden - Anmerkung nicht genügend dar, die von dem Verwaltungsgericht eingenommene Sichtweise verkehre angesichts der grundsätzlichen Erwerbsfähigkeit des Ehemannes der Klägerin den anzulegenden Maßstab. Dass § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiederum zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gehöre, steht bei der Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, der Berücksichtigung des Fehlens von Sanktionen nach § 31 ff. SGB II nicht grundsätzlich entgegen, sondern erfordert eine wertende Gesamtschau (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 30). Diese hat das Verwaltungsgericht im konkreten Einzelfall ohne durchgreifende Rügen seitens des Zulassungsvorbringens vorgenommen. [...]