VG Gelsenkirchen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16.12.2013 - 5a K 3702/10.A - asyl.net: M21691
https://www.asyl.net/rsdb/M21691
Leitsatz:

In einer latenten Gefährdungslage befindet sich ein Jugendlicher, der von den Taliban zur Zwangsrekrutierung entführt wurde und den sie wieder laufen ließen, um ihn später unter dem Schein der Überzeugung erneut zu rekrutieren.

Schlagwörter: latente Gefährdungslage, Afghanistan, Taliban, Zwangsrekrutierung, Schutzfähigkeit,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 3,
Auszüge:

[...]

Der Kläger, dessen Vater schon Jahre zuvor von Angehörigen der Taliban ermordet wurde, war - zusammengefasst - auf dem Schulweg von Angehörigen der Taliban entführt worden. Er weigerte sich, als Selbstmordattentäter Bombengürtel zu tragen. Ein älterer Angehöriger der Taliban ließ den Kläger und andere "diesmal" mit der Drohung laufen, ein nächstes Mal gebe es nicht. Bald nach seiner dadurch möglichen Ausreise ermordeten die Taliban die Mutter des Klägers. Die Rekrutierung Jugendlicher durch Angehörige der Taliban als Selbstmordattentäter ist angesichts der Auskunftslage in Afghanistan gängige Praxis. Dass die Taliban den Kläger "diesmal" haben laufen lassen, widerspricht dem nicht. Es entspricht nämlich ebenso der Auskunftslage, dass die Taliban den Schein der Überzeugung der Betroffenen wahren will - und ein solches auch von Terrororganisationen genutztes Instrument, welches gelegentlich mit den Worten "Good-Guy/Bad-Guy" beschrieben wird, ist geeignet, den Willen der Betroffenen in dem Sinne zu brechen, dass die Betroffenen beim nächsten Mal in Erkenntnis der Aussichtslosigkeit von Widerstand eben widerstandslos und damit scheinbar "freiwillig" mitgehen.

Aufgrund dessen befand sich der Kläger schon in einer über eine bloße Latenz hinausgehenden Gefährdungslage, wobei eine latente Gefährdungslage als Lage schwebender Bedrohung, die jederzeit in eine konkrete politische Verfolgung umschlagen kann, zu verstehen ist (vgl. zum Gesichtspunkt einer latenten Gefährdungslage z.B.: BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1989 - 9 C 56.88 - , Juris-Dokument).

Diese Bedrohung durch die landesweit agierenden Taliban ist auch dem afghanischen Staat zuzurechnen, da dieser Staat nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften selbst in Kabul, wo der afghanische Staat Gebietsgewalt hat, offensichtlich nicht in der Lage ist, seine Bevölkerung vor Angehörigen dieser Organisation zu schützen.

Ist der Kläger dieser Gestalt in das Visier der Taliban geraten, kommt eine Rückkehr nach Afghanistan nicht in Betracht, da auch bei einer Rückkehr des Klägers eine erneute Verfolgung in beachtlicher Weise wahrscheinlich ist: Die pashtunische Volkszugehörigkeit des Klägers (vgl. insoweit: Dr. M. Danesch, Auskunft an das Oberverwaltungsgericht Lüneburg v. 30. April 2013 zum Az.: 9 LB 2/13) und der Umstand, dass er schon vor seiner Ausreise in das Visier der Taliban geraten ist, führen dazu, dass der Kläger bei seiner Rückkehr alsbald wiedererkannt werden wird. Das durch seine Flucht entstandene Misstrauen der Taliban dem Kläger gegenüber wird sich zudem durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik weiter verfestigt haben. Das hat zur Folge, dass der Kläger aufgrund der der Taliban eigenen Brutalität bei einer Rückkehr nach Afghanistan landesweit (vgl. zu einer solchen Gefährdung selbst in Kabul auch: Dr. M. Danesch, Auskunft an den Hess. Verwaltungsgerichtshof v. 03. September 2013 zum Az.: 8 A 119/12.A) akuter Lebensgefahr ausgesetzt ist. [...]