VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 13.11.2013 - 1 K 1937/11.GI.A - asyl.net: M21717
https://www.asyl.net/rsdb/M21717
Leitsatz:

Jedenfalls bei alleinstehenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die nicht in Burkina Fasos aufgewachsen sind, ist bei Fehlen eines belastbaren Rückhalts befreundeter oder verwandter Personen und finanzieller Ressourcen in Burkina Faso von einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG auszugehen, da ein Abrutschen unter die nationale Armutsgrenze bei einer Rückkehr ohne private Anlaufstellen sehr wahrscheinlich ist.

Schlagwörter: Burkina Faso, Jugendliche, minderjährig, junge Erwachsene, extreme Gefahrenlage, alleinstehend, Familienangehörige, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

In dem verbliebenen Umfang ist die Klage zulässig und begründet.

Das Gericht ist aufgrund der Angaben des Klägers, der beigezogenen Gerichts- und Behördenakten und nach Auswertung aller in das Verfahren eingeführten Dokumente zu der Auffassung gelangt, dass der Kläger in dem gemäß § 77 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG - maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - hinsichtlich Burkina Faso hat. Der dieses Begehren ablehnende Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 11.05.2010 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Hinsichtlich des im angegriffenen Bescheid enthaltenen Datums "11.05.2010" geht das Gericht von einem offensichtlichen Fehler hinsichtlich des angegebenen Jahrs aus; offensichtlich richtig ist der 11.05.2011.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, welcher der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen § 60a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Wenn ein Ausländer weder durch einen Abschiebestopp noch durch eine gleichwertige ausländerrechtliche Erlass- oder Weisungslage vor Abschiebung geschützt ist, besteht die staatliche Verpflichtung, in verfassungskonformer Einschränkung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot festzustellen, wenn die Rückkehr des Ausländers in seine Heimat ihn einer vor der Werteordnung des Grundgesetzes nicht zu rechtfertigenden Gefahr aussetzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Fall seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwerster Verletzung ausgeliefert würde und diese Gefahren alsbald nach seiner Rückkehr und landesweit drohen würden. Erforderlich ist eine Gesamtschau sämtlicher Gefahren (BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 2.01 BVerwGE 114, 379/382; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 NVwZ 2011, 48). Dies setzt allerdings nicht voraus, dass im Fall der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im Abschiebezielstaat eintreten (BVerwG, Beschluss vom 26.01.1999 - 9 B 617.98 InfAuslR 1999, 265).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Klägers sowie der zur Verfügung stehenden Auskunftslage gegeben.

Hinsichtlich der persönlichen Verhältnisse des Klägers geht das Gericht auf der Grundlage seines Vortrages im Behördenverfahren gegenüber dem Bundesamt sowie im gerichtlichen Verfahren davon aus, dass der Kläger seit seinem sechsten Lebensjahr Vollwaise ist und anschließend bis zu seiner Ausreise in der Familie seiner Tante in Conakry/Guinea im Stadtteil Kaloum gelebt hat. Aus dem Kläger nicht bekannten Gründen verließen seine Tante und ihre Familie im Frühjahr 2009 ihren Wohnort mit unbekanntem Ziel und ließen den Kläger bei einem Freund des Ehemannes der Tante zurück, der nachfolgend seine Reise in die Bundesrepublik Deutschland organisierte und begleitete. Verwandtschaftliche oder sonstige Kontakte in Burkina Faso oder Guinea sind dem Kläger nicht bekannt.

Der Kläger hat diesen für die Beurteilung des Asylverfahrens wesentlichen Sachverhaltskomplex in der informatorischen Anhörung durch das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung zusammenhängend, detailliert und frei von Widersprüchen dargelegt. Die Aussagen stimmen in den wesentlichen Punkten mit den gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Rahmen der Anhörung gemachten Angaben überein und sind in der mündlichen Verhandlung in nachvollziehbarer Weise konkretisiert und erläutert worden. Aufgrund des von ihm in der mündlichen Verhandlung hinterlassenen persönlichen Eindrucks ist das Gericht von der Glaubhaftigkeit seiner Darstellung überzeugt. Die im angefochtenen Bescheid geäußerten Zweifel an der Glaubhaftigkeit seines Vortrags zum Fehlen jeglicher privater Kontakte in Burkina Faso und Guinea sind aufgrund seiner Glaubwürdigkeit sowie des Fehlens konkreter Anhaltspunkte für die Berechtigung dieser Zweifel daher nicht begründet.

Auf der Grundlage des danach feststehenden Sachverhalts ist nach der vorhandenen Auskunftslage zur Situation alleinstehender Jugendlicher und junger Erwachsener in Burkina Faso davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Burkina Faso einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt wäre. So weist das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 29.02.2008 an das VG Frankfurt (Oder) darauf hin, Burkina Faso sei laut UNDP-Liste das zweitärmste Land der Welt und es seien weder staatliche noch nichtstaatliche Einrichtungen bekannt, die volljährige junge Menschen bei der Sicherung des Lebensunterhalts unterstützten. Daher seien Überleben und Lebensstandard stark von der Einbindung in einen Familienverband abhängig, der in Burkina Faso weitestgehend das soziale Netz ersetze. Das vom gleichen Gericht um Auskunft gebetene Institut für Afrika-Studien hebt in seiner Auskunft vom 09.10.2007 ebenfalls die Notwendigkeit eines belastbaren Rückhalts bei befreundeten oder verwandten Personen hervor und führt aus, ohne finanzielle Ressourcen und familiäre Anbindung sei mangels Landbesitz auch an eine selbstversorgende Landwirtschaft nicht zu denken, und ein Abrutschen unter die nationale Armutsgrenze sei bei einer Rückkehr ohne private Anlaufstellen in Burkina Faso sehr wahrscheinlich.

Vorliegend kann dahinstehen, ob die dargestellten Auskünfte auch für solche Jugendliche und junge Erwachsene Gültigkeit beanspruchen, die ihre Kindheit und Jugend in Burkina Faso verbracht haben und hierdurch geprägt worden sind. Denn im Fall des Klägers kommt als erschwerende Besonderheit hinzu, dass er Burkina Faso bereits im Alter von sechs Jahren verlassen hat und prägende Teile seiner Entwicklung zunächst in Guinea und anschließend in der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden haben. Daher ist davon auszugehen, dass der in der Bundesrepublik Deutschland auf bemerkenswerte Weise integrierte Kläger keinen Bezug zu den Lebensverhältnissen in Burkina Faso hat, was seiner Überlebensfähigkeit entscheidend entgegensteht.

Angesichts dieser Sachlage erweist sich der Bescheid hinsichtlich der Feststellung zu § 60 Abs.7 AufenthG und soweit dem Kläger die Abschiebung nach Burkina Faso angedroht worden ist, als rechtswidrig. Anders als unter Geltung des Ausländergesetzes, in der die Abschiebungsandrohung grundsätzlich auch dann (insgesamt) rechtmäßig war, wenn hinsichtlich des Zielstaats Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG festgestellt wurden, wirkt sich eine positive Feststellung gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auf die Zielstaatsbestimmung in der Abschiebungsandrohung aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 - 10 C 8.07 -, juris). [...]