OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.02.2014 - 2 B 12.12 - asyl.net: M21808
https://www.asyl.net/rsdb/M21808
Leitsatz:

Die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug wegen Pflegebedürftigkeit gem. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt die spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe voraus.

Wenn der alters- und krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, spricht dies dagegen, sie auf die Hilfeleistungen Dritter zu verweisen.

Schlagwörter: Visum, Familiennachzug, Familienzusammenführung, Pflegebedürftigkeit, Betreuungsbedarf, Sonstige Familienangehörige, familiäre Beistandsgemeinschaft, außergewöhnliche Härte, familiäre Lebenshilfe, Peru, Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte, nationales Visum,
Normen: GG Art. 6, AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 36 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

d) Für die Erteilung des beantragten Visums zum Familiennachzug der Klägerin fehlt es jedoch an den Voraussetzungen nach § 6 Abs. 3 i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

aa) Das Aufenthaltsgesetz trifft keine spezielle Regelung zum Familiennachzug von Eltern zu ihren erwachsenen Kindern, sondern enthält als mögliche Rechtsgrundlage nur die allgemeine Härtefallregelung des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG für den Nachzug sonstiger Familienangehöriger. Danach kann sonstigen Familienangehörigen zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Mit der Voraussetzung einer außergewöhnlichen (nicht nur besonderen) Härte beschränkt das Aufenthaltsgesetz den Nachzug sonstiger Familienangehöriger auf seltene Ausnahmefälle, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie des Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15.12 –, juris Rn. 11; ebenso zu § 22 AuslG bereits BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1997 – 1 B 236.96 –, juris Rn. 8 –).

Eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige kein eigenständiges Leben mehr führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (vgl. m.w.N. BVerwG, Urteile vom 30. Juli 2013, a.a.O. Rn. 12, und vom 18. April 2013, a.a.O., Rn. 37; Urteil des Senats vom 25. Januar 2012, a.a.O., Rn. 20; Urteil des 3. Senats vom 19. November 2011 – OVG 3 B 17.10 –, juris Rn. 23).

Soweit in der Literatur angenommen wird, die Anforderungen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verdichteten sich für den von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003, ABl. L 251/12, nachfolgend: FamZRL) begünstigten Personenkreis, so dass in diesen Fällen stets vom Vorliegen einer besonderen Härte auszugehen sei (vgl. Dienelt in: Renner/Bergmann/Dienelt, AuslR, 10. Aufl. 2013, Rn. 32; Marx in: GK-AufenthG, Stand: Januar 2014, § 36 Rn. 52), greift dies hier nicht durch. Nach der genannten Richtlinienbestimmung können die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in Kapitel IV der Richtlinie genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt von Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden oder seines Ehegatten gestatten, wenn letztere für ihren Unterhalt aufkommen und erstere in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben. Der Umstand, dass der Gesetzgeber mit der Regelung des § 36 Abs. 2 AufenthG lediglich eine bereits im Ausländergesetz (vgl. § 22 Satz 1 AufenthG) enthaltene allgemeine Härtefallregelung zum Nachzug sonstiger Familienangehöriger beibehalten hat, dürfte jedoch dagegen sprechen, darin eine nationale Nachzugsregelung im Sinne des Art. 4 Abs. 2 Buchst. a FamZRL zu erblicken bzw. anzunehmen, die Bundesrepublik habe von der ihr durch die Richtlinie eingeräumten Regelungsoption Gebrauch gemacht und dürfe somit keine weitergehenden als die dort geregelten Anforderungen aufstellen. Dies muss hier indes nicht abschließend entschieden werden, weil die Klägerin, die in ihrem Herkunftsland mit ihrer Schwester und ihrem Neffen zusammenlebt, nicht die Voraussetzung des Art. 4 Abs. 2 Buchst. a FamZRL erfüllt, wonach der nachzugswillige Elternteil in seinem Herkunftsland keine sonstigen familiären Bindungen mehr haben darf.

Die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug wegen Pflegebedürftigkeit gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt die spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe voraus. Das ist nicht bei jedem Betreuungsbedarf der Fall, sondern kann nur dann in Betracht kommen, wenn die geleistete Nachbarschaftshilfe oder im Herkunftsland angebotener professioneller pflegerischer Beistand den Bedürfnissen des Nachzugswilligen qualitativ nicht gerecht werden können. Wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, spricht dies dagegen, sie auf die Hilfeleistungen Dritter verweisen zu können. Denn das humanitäre Anliegen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG respektiert den in den unterschiedlichen Kulturen verschieden stark ausgeprägten Wunsch nach Pflege vorrangig durch enge Familienangehörige, zu denen typischerweise eine besondere Vertrauensbeziehung besteht. Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet sei, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können, erweist sich auch mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig. Danach ist grundsätzlich eine umfassende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles geboten, bei der sowohl der Grad des Autonomieverlusts des nachzugswilligen Ausländers als auch das Gewicht der familiären Bindungen zu den in Deutschland lebenden Familienangehörigen und deren Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme der familiären Pflege zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013, a.a.O., Rn. 38 f.).

Diese Auslegung ist mit Art. 6 GG vereinbar, selbst wenn sie im Einzelfall dazu führen kann, den Nachzug wegen der zumutbaren Inanspruchnahme von Unterstützung und Hilfe durch Dritte in dem Heimatland des Nachzugswilligen zu versagen. Nach ständiger Rechtsprechung verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, Ausländerbehörden und Gerichte, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zur Geltung zu bringen, wobei sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sind (st. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586.13 –, juris Rn 12, und vom 17. Mai 2011 – 2 BvR 2625.10 –, juris Rn. 13; BVerwG, Urteile vom 13. Juni 2013 – 10 C 16.12 –, juris Rn. 21, und vom 30. April 2009 – 1 C 3.08 –, juris Rn. 18; Urteil des Senats vom 21. Mai 2012 – OVG 2 B 8.11 –, juris Rn. 25). Auch die Bindungen zwischen Eltern und volljährigen Kindern unterfallen dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG. Ihnen darf in der grundrechtlich gebotenen Abwägung jedoch regelmäßig ein geringeres Gewicht beigemessen werden als im Verhältnis von Eltern zu minderjährigen Kindern. In Bezug auf Bindungen zu volljährigen Familienangehörigen gebieten es die Schutzwirkungen des Art. 6 GG regelmäßig nicht, einwanderungspolitische Gründe oder sonstige öffentliche Belange, die gegen einen angestrebten Daueraufenthalt sprechen, zurückzustellen. Weitergehende Schutzwirkungen aus Art. 6 GG kommen nur ausnahmsweise in Betracht, wenn nämlich ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds angewiesen ist und dieser Beistand nur im Bundesgebiet erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands nicht zumutbar ist. Ist der Umfang des Autonomieverlusts und der Hilfebedürftigkeit jedoch nicht so weit fortgeschritten, dass ein spezifisches Angewiesensein auf familiäre Hilfe anzuerkennen ist, so stellt es regelmäßig keinen unverhältnismäßigen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 GG dar, den Familiennachzug im Hinblick auf mögliche Hilfe und Unterstützung durch Dritte zu versagen. Etwas anderes ergibt sich für solche Fälle auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, soweit dieses ausgeführt hat, es komme nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte (vgl. m.w.N. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 5. Juni 2013, a.a.O., Rn. 13 und vom 17. Mai 2011, a.a.O. Rn. 15), zumal sich diese Rechtsprechung nur auf Fälle eines Eingriffs in bereits tatsächliche gelebte familiäre Beistandsgemeinschaften bezieht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013, a.a.O., Rn. 38 unter Bezugnahme auf OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011, a.a.O., Rn. 26).

bb) Nach diesen Maßstäben ist die Erteilung des begehrten Visums nicht zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich.

aaa) Könnte die Klägerin in Peru kein eigenständiges Leben mehr führen und wäre sie auf familiäre Lebenshilfe ihrer Tochter angewiesen, so könnte diese Hilfe allerdings in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden. Weder könnte der Familie ihrer Tochter zugemutet werden, sich zu trennen, was bereits im Hinblick auf ihre beiden kleinen Kinder, die auf beide Eltern angewiesen sind, nicht in Betracht kommt, noch wäre der Familie der Tochter zumutbar, insgesamt nach Peru überzusiedeln. Da nicht absehbar ist, für wie lange die Klägerin, deren Mutter 102 Jahre alt geworden ist, der Pflege bedarf, müsste der Schwiegersohn die Ehe auf unabsehbare Zeit im Ausland führen, was einem Deutschen allenfalls aufgrund gewichtiger öffentlicher Belange zugemutet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2012 – 10 C 12.12 –, juris Rn. 26; Beschluss vom 3. September 2013 – 10 B 14.13 –, juris Rn. 6). Solche gewichtigen Gründe liegen hier jedoch nicht vor, zumal der Schwiegersohn seine Stelle als Gymnasiallehrer aufgeben müsste und damit die Familie die bisherige wirtschaftliche Existenzgrundlage verlöre.

bbb) Es lässt sich indes bei der gebotenen Würdigung der maßgeblichen Umstände nicht feststellen, dass die Klägerin entsprechend den dargelegten Grundsätzen auf eine familiäre Lebenshilfe durch ihre Tochter angewiesen ist.

Soweit die Klägerin nach den vorliegenden ärztlichen Attesten an Asthma bronchiale, Hypertonie, zerebralen Durchblutungsstörungen und – ausweislich des zuletzt eingeholten Gutachtens der Ärztin D... vom 6. Dezember 2013 – an einem Zustand nach einer etwa ein Jahr zurückliegenden Episode von Herzklopfen leidet, sind diese Leiden nach der sich mit den vorhergehenden ärztlichen Zeugnissen (D... vom 2. August 2010, D... vom 13. September 2010 sowie D... vom 20. April 2013) deckenden Beurteilung in dem genannten Gutachten mit Medikamenten gut kontrolliert. Sie begründen daher jedenfalls unmittelbar kein Angewiesensein auf eine familiäre Hilfe. Nichts anderes gilt für die im Attest von D... vom 20. April 2013 erwähnte Osteopenie, die danach ebenfalls mit den entsprechenden Medikamenten behandelt wird.

Die von der Ärztin D... im Gutachten vom 6. Dezember 2013 dargelegte Hilfebedürftigkeit der Klägerin belegt ebenfalls keinen Autonomieverlust, der die Annahme rechtfertigt, sie sei auf Betreuung bzw. Pflege durch ihre in Deutschland lebende Tochter angewiesen. Nach den Feststellungen der Ärztin bedarf die Klägerin der Hilfe bei der Körperpflege (Duschen, Baden); im Bereich der Ernährung: bei der Zubereitung von Mahlzeiten; beim Besorgen, Stellen und Einnehmen von Medikamenten; im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung: Einkaufen, Kochen, Herbeischaffen von Nahrungsmitteln und täglichen Bedarfsgütern; bei der Reinigung der Wohnung, Spülen, Pflege der Leib- und Bettwäsche; im Bereich der Mobilität außerhalb der Wohnung, beim Ausgehen, z.B. Begleitung zum Arzt, zu Therapien, bei kleineren Spaziergängen und Besuchen der Messe.

Beurteilt man diesen Hilfebedarf an den sozialrechtlichen Kriterien für eine erhebliche Pflegebedürftigkeit des § 64 Abs. 1 i.V.m. § 61 Abs. 5 SGB XII bzw. § 15 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 14 Abs. 4 SGB XI, so ist allerdings festzustellen, dass die Klägerin nicht nur im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung mehrfach in der Woche, wenn nicht gar täglich, der Hilfe bedarf, sondern ebenso bei wenigstens zwei Verrichtungen in den Bereichen der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens einmal täglich auf Unterstützung angewiesen ist. Dies ergibt sich, selbst wenn man in der erforderlichen Hilfe beim Duschen bzw. Baden keinen täglichen Hilfebedarf sieht, zum einen aus der notwendigen Hilfe bei der Zubereitung von Mahlzeiten und beim Stellen und Einnehmen von Medikamenten (letzteres kommt einem Hilfebedarf im Bereich der Ernährung gleich, da die Klägerin aufgrund ihrer oben erwähnten Leiden auf die Einnahme von Medikamenten angewiesen ist), sowie zum anderen aus dem Hilfebedarf im Bereich der Mobilität außerhalb der Wohnung. Die genannten sozialrechtlichen Kriterien der Pflegebedürftigkeit können im vorliegenden Zusammenhang allerdings nur als erster grober Anhaltspunkt zur Ermittlung und Erfassung des Sachverhalts sowie als Orientierungshilfe für die Beurteilung des Umfangs der Hilfebedürftigkeit herangezogen werden. Auf die Feststellung einer Pflegebedürftigkeit nach den genannten Vorschriften oder einer bestimmten Pflegestufe kommt es für die Annahme einer außerordentlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG nicht an. Ebenfalls verzichtbar ist im vorliegenden Zusammenhang eine Quantifizierung des zeitlichen Umfangs der Hilfebedürftigkeit (vgl. § 15 Abs. 3 SGB XI).

In einem weiteren Schritt bedarf es im Rahmen des § 36 Abs. 2 AufenthG einer wertenden Beurteilung, inwieweit der Hilfebedarf, um den Bedürfnissen des Betroffenen qualitativ gerecht zu werden, gerade eine Hilfe und Unterstützung durch die Familienangehörigen erfordert, mit denen die Familieneinheit hergestellt werden soll. Dabei wird etwa einem Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung regelmäßig ein geringeres Gewicht zukommen. Im vorliegenden Fall sprechen Art und Umfang des Hilfebedarfs der Klägerin gegen ein spezifisches Angewiesensein auf familiäre Hilfe. Die Feststellungen in dem ärztlichen Gutachten vom Dezember 2013 zu ihrem Allgemeinzustand rechtfertigen vielmehr die Einschätzung, dass ihr Autonomieverlust nicht so weit fortgeschritten ist, dass sie in ihrem jetzigen häuslichen Lebensumfeld nicht auch weiterhin zu einem selbstbestimmten Leben in der Lage wäre. So heißt es in dem Gutachten, die Klägerin habe die Frage nach befreundeten Personen im Umfeld verneint. Sie gehe mit Begleitung aus, unterhalte sich viel mit Handarbeit, sei informiert und lese täglich die Zeitung. Sie sei allein mit einem organisierten Taxi-Service zur Untersuchung gekommen. Sie brauche keine Gehhilfe und keinen Krückstock. Bei den Untersuchungsgängen (Wiegen, Liege, EKG) sei Hilfestellung notwendig gewesen. Die Klägerin könne jedoch gut allein von einem Stuhl aufstehen bzw. sich setzen (chair raising-Test). Sie habe keine Schwerhörigkeit. Sie sei für ihr Alter rüstig und entschlossen. Zudem hat sich der Umfang der Pflegebedürftigkeit gegenüber dem Ergebnis der mehr als drei Jahre zurückliegenden Untersuchungen durch Frau D... (dazu deren Zeugnisse vom 13. September 2010 und vom 9. November 2010) nicht erheblich verschlechtert und nach dem Gutachten vom 6. Dezember 2013 ist nicht zu erwarten, dass sich der Zustand der Klägerin in den kommenden zwei bis zweieinhalb Jahren ändern wird, wenn der dargelegte Hilfebedarf sichergestellt wird.

Hinzu kommt, dass die Klägerin in Peru in einem familiären Umfeld lebt, nämlich bei ihrer wenngleich erheblich älteren, selbst pflegebedürftigen Schwester und deren 60jährigem Sohn. Wie der Schwiegersohn der Klägerin in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, wohnt außerdem eine Tochter der Schwester der Klägerin in der Nähe. Nach den Angaben der Klägerin wohnt in der Wohnung ihrer Schwester eine Hausangestellte, die die Schwester rund um die Uhr betreut und lediglich an den Sonntagen arbeitsfrei hat; auf diese Weise werde die Klägerin mitbetreut. Sollte der Hilfebedarf der Klägerin nicht bereits hierdurch sichergestellt sein, so kann sie eine weitere Pflegekraft oder einen ambulanten Pflegedienst beauftragen. Dass eine ausreichende ambulante Versorgung in Lima nicht verfügbar wäre, lässt sich nicht erkennen. Vielmehr hat die Beklagte mitgeteilt, dass nach Auskunft ihre Botschaft in Lima private Haushalts- und Pflegekräfte am dortigen Arbeitsmarkt auffindbar seien, wobei sich die Kosten für Haushaltskräfte auf umgerechnet auf 222 bis 236 Euro und für Pflegekräfte auf 388 Euro beliefen. Anhaltspunkte, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln, bestehen nicht. Ebenfalls nicht ersichtlich ist, dass es der Klägerin wegen der Art ihres Hilfebedarfs nicht zumutbar wäre, sich darauf verweisen zu lassen, weiter im Haushalt ihrer Schwester zu leben und sich von deren Hausangestellter mit versorgen zu lassen oder ggf. eine weitere Haushalts- oder Pflegekraft einzustellen bzw. einen ambulanten Pflegedienst zu beauftragen. Schließlich erfordert der ärztlich begutachtete Gesundheitszustand der Klägerin ersichtlich keine stationäre Unterbringung in einem Pflegeheim.

Der niedergedrückte psychische Zustand der Klägerin und die enge persönliche Bindung zwischen ihr und ihrer Tochter rechtfertigen keine andere Beurteilung. Die Tochter ist nicht nur das einzige Kind der Klägerin, vielmehr besteht eine besondere Beziehung auch deshalb, weil die Klägerin ihre Tochter allein erzogen hat und diese nach den von der Ärztin D... aufgenommenen Angaben stets mit ihrer Mutter in Lima zusammengelebt hat. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Angaben der Klägerin nachvollziehbar und glaubhaft, dass sie sich aufgrund der Trennung von ihrer Tochter niedergedrückt und belastet fühlt und an depressiven Stimmungsschwankungen leidet, und dass insbesondere die Abreise der Familie ihrer Tochter nach einem Besuch um die Jahreswende 2012/2013 zu einem Stimmungstief geführt hat.

Unter Berücksichtigung der vorliegenden ärztlichen Atteste sowie der Angaben der Klägerin kann jedoch nicht von einer depressiven Erkrankung mit erheblichen Auswirkungen auf die Fähigkeit zur eigenständigen Lebensführungen oder dem Risiko einer baldigen erheblichen Verschlechterung ausgegangen werden. Soweit der Psychiater D... unter dem 30. Dezember 2011 u.a. eine "depressive Erkrankung" diagnostiziert hat, genügt dieses Zeugnis nicht den formalen Mindestanforderungen an die Verwertbarkeit ärztlicher Stellungnahmen und vermag deshalb eine depressive Erkrankung nicht zu belegen. Zwar ist es den Gerichten regelmäßig verwehrt, eigene medizinische Bewertungen, etwa zur Schwere und zum Ausmaß einer psychischen Erkrankung vorzunehmen, ohne die hierfür erforderliche Sachkunde zu besitzen. Gleichwohl gelten Mindestanforderungen an die Verwertbarkeit ärztlicher Stellungnahmen, die im konkreten Einzelfall über - prüft werden müssen. In der Rechtsprechung ist insoweit anerkannt (vgl. Beschluss des Senats vom 4. September 2013 – OVG 2 S 20.13 – sowie m.w.N. Beschluss des Senats vom 8. Mai 2007 – OVG 2 S 47.07 -, juris Rn. 8), dass ärztliche Stellungnahmen nachvollziehbar die tatsächlichen Umstände angeben müssen, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt (Befundtatsache). Gegebenenfalls müssen auch die Methoden der Tatsachenerhebung benannt werden. Ferner ist die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose) nachvollziehbar ebenso darzulegen wie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus krankheitsbedingten Situationen voraussichtlich ergeben (prognostische Diagnose). In dem ärztlichen Zeugnis von D...werden jedoch bereits die Methoden der Befunderhebung nicht nachvollziehbar dargestellt. Auch die erhobenen Befunde werden nicht hinreichend dargelegt. Schließlich wird die Diagnose nicht nachvollziehbar begründet. Die Diagnose ist als solche außerdem nicht hinreichend klar, da es an einer Bezugnahme auf gängige Klassifikationssysteme fehlt. Es fehlen jegliche Angaben zur Schwere der Erkrankung. Zudem fehlt eine prognostische Diagnose. Die außerdem vorliegenden ärztlichen Zeugnisse der beiden Internisten (D... vom 13. September 2010 und vom 6. Dezember 2013 sowie Dr. ... vom 5. Oktober 2012 und vom 22. April 2013) belegen zwar eine depressive Stimmung und Niedergeschlagenheit der Klägerin, nicht aber eine depressive Erkrankung mit einem solchen Ausmaß, dass der Klägerin, etwa wegen Antriebslosigkeit oder einer ernsthaft drohenden Eigengefährdung ein eigenständiges Leben nicht mehr möglich wäre oder aufgrund somatischer Auswirkungen eine erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes droht. Unter Berücksichtigung des aus der Begutachtung durch Frau D... vom Dezember 2013 ersichtlichen Gesamtzustandes ergeben die vorliegenden Atteste und Angaben auch keinen Anlass, den psychischen Gesundheitszustand der Klägerin von Amts wegen durch Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens weiter aufzuklären.

Relativiert wird die psychische Belastung der Klägerin durch die Trennung von ihrer Tochter jedenfalls teilweise auch dadurch, dass die Klägerin mit ihrer Schwester sowie ihrem Neffen und ihrer Nichte immerhin noch Familienangehörige in ihrem engeren Lebensumfeld hat. Zudem wird ihre nicht berufstätige Tochter sie, wenngleich dies mit Rücksicht auf ihren Ehemann und die beiden Töchter im Kleinkindalter angesichts der weiten Entfernung zwischen Deutschland und Peru nur von Zeit zu Zeit möglich sein wird, dort besuchen können.

Bei der gebotenen Gesamtwürdigung unter Einbeziehung aller maßgeblichen Umstände fehlt es nach alledem an hinreichenden Gründen, um entsprechend den oben ausgeführten Grundsätzen ein spezifisches Angewiesensein der Klägerin auf familiäre Hilfe und damit eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG annehmen zu können. [...]