VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 28.04.2014 - 4 K 1131/11 - asyl.net: M22095
https://www.asyl.net/rsdb/M22095
Leitsatz:

Nach der Gesetzesänderung ist aufgrund von § 61 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG nunmehr für die Erteilung einer Duldung bei Umverteilung zur Herstellung der familiären Einheit die Ausländerbehörde des derzeitigen Wohnortes (keine Zweitduldung mehr) zuständig.

Schlagwörter: örtliche Zuständigkeit, Zuständigkeit, Zweitduldung, Umzug, Umzug mit Duldung, Umverteilung, Duldung, Wohnsitzwechsel, Familieneinheit, Familienzusammenführung,
Normen: AufenthG § 61 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 61 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

2. Die Kammer hält an dieser Rechtsprechung nicht länger fest. Der richterrechtlich entwickelten Konstruktion einer von der Frage des gewöhnlichen Aufenthalts 1. S. von § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a) BremVwVfG losgelösten Behördenzuständigkeit bedarf es im hier einschlägigen Regelungskreis nicht länger, nachdem aufgrund einer Änderung des Aufenthaltsgesetzes den Ausländerbehörden die Befugnis eingeräumt worden ist, von der räumlichen Beschränkung des Aufenthalts des Ausländers auf das Gebiet des jeweiligen Bundeslandes abzuweichen.

Durch die Änderung des § 61 Abs. 1 AufenthG, insbesondere die Einfügung des Satzes 4, kann jetzt auch eine auswärtige Behörde eine Duldung für den Bereich des Zuzugsortes erteilen. Nach § 61 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist dies zum Zwecke der Ausübung-einer Erwerbstätigkeit und zu Ausbildungszwecken möglich, nach Satz 4 zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Familieneinheit. Während Satz 3 bereits 2007 in das Aufenthaltsgesetz eingefügt worden ist, ist dies hinsichtlich Satz 4 erst durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 (BGBl. I S. 2258) geschehen. Der im Rahmen von § 61 Abs. 1 AufenthG verwendete Begriff des Aufenthalts ist dabei weit zu verstehen. Er umfasst sowohl den temporären Aufenthalt als auch die Begründung des Wohnsitzes. Für die In Satz 3 und Satz 4 genannten Konstellationen greift das Argument zur Bejahung der Zuständigkeit in der früheren Rechtsprechung daher nicht mehr (ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 12.06.2013 - OVG 3 S 32.13; VG Oldenburg, Beschl. v. 26.11.2012 - 11 B 4964/12; ähnlich OVG Hamburg, Beschl. v. 27.08.2012 - 5 Bs 178/12). Es gelten daher die allgemeinen Zuständigkeitsregelungen des § 3 Abs. 1 BremVwVfG. Zuständig für die Erteilung der Duldung, die den Aufenthalt im angestrebten Zuzugsort ermöglicht, ist demnach nicht mehr die Behörde des Zuzugsortes, sondern die Behörde, die bislang die Duldung erteilt hat.

Den rechtlich geschützten Interessen von geduldeten Ausländern, die wie die Kläger eine Familienzusammenführung anstreben, wird jetzt durch die Reglung des § 61 Abs. 1 Satz 4 AufenthG hinreichend Genüge getan, ohne dass es eines Rückgriffs auf eine im Aufenthaltsgesetz nicht vorgesehene sog. Zweitduldung bedarf.

3. In Anknüpfung an die aus dem vorangegangenen Asylverfahren fortwirkenden Aufenthaltsbeschränkungen sind die den Klägern vom Beigeladenen seit dem 28.09.2010 erteilten Duldungen jeweils mit Aufenthaltsbeschränkungen auf das Gebiet des Landkreises Rotenburg (Wümme) und mit der Verpflichtung zur Wohnsitznahme in der Samtgemeinde Sottrum versehen gewesen. Diese Auflagen sind auch für die Bestimmung der für die aufenthaltsrechtlichen Angelegenheiten der Kläger zuständigen Behörde maßgeblich. Dabei kann es dahinstellt bleiben, ob die Wohnsitzauflage in der den Klägern zuletzt am 13.03.2014 erteilten Duldung u.U. wegen inhaltlicher Widersprüchlichkeiten rechtsfehlerhaft sein könnten, wenn darin sowohl von der Verpflichtung zur Wohnsitznahme in der Samtgemeinde Geestequelle wie auch in der Samtgemeinde Sottrum die Rede ist. Der Prozessbevollmächtigte des Beigeladenen erklärte hierzu in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, dass es sich bei der Angabe der Samtgemeinde Geestequelle vermutlich um ein Schreibversehen handele. Gleichwohl ist auch in der Duldung vom 13.03.2014 der Aufenthalt der Kläger durch die Ausländerbehörde des Beigeladenen weiterhin gemäß § 61 Abs. 1 AufenthG auf den Landkreis Rotenburg (Wümme) beschränkt worden, in dem auch beide genannten Samtgemeinden belegen sind. In Bremen dürfen sich die Kläger jeweils nur vorübergehend mit Verlassenserlaubnissen nach § 15 Abs. 5 AufenthG aufhalten.

Aufgrund dieser Aufenthaltsbeschränkungen ist für die Kläger gemäß § 1 Abs. 1 Niedersächsisches Verwaltungsverfahrensgesetz i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a) VwVfG (Bund) die Ausländerbehörde des Beigeladenen für die Entscheidung zuständig, ob der Geltungsbereich der den Klägern erteilten Duldung in Anwendung des § 61 Abs. 1 Satz 4 AufenthG räumlich auf den Bereich der Stadtgemeinde Bremen zu erweitern ist.

4. Die Kläger können nicht beanspruchen, dass die Kammer ihr Duldungsbegehren nach der bisherigen Rechtsanwendungspraxis behandelt, nach der die Ausländerbehörde der Beklagten zur Entscheidung über ihren (Zweit-)Duldungsantrag berufen gewesen wäre.

Maßgeblich für die Entscheidung eines Gerichts sind die Rechtsvorschriften, die sich im Zeitpunkt der Entscheidung für die Beurteilung des Klagebegehrens Geltung beimessen, und zwar gleichgültig, ob es sich um eine Feststellungsklage, eine Leistungsklage, eine Anfechtungsklage oder Verpflichtungsklage handelt; dabei kann das insoweit maßgebende Recht seinerseits auf, früheres - d.h. außer Kraft getretenes - Recht verweisen und dieses für anwendbar erklären (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.07.2002 - 3 C 54.01- m.w.N.).

Die hier maßgebliche Regelung des § 61 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ist durch Artikel 1 Nr. 33 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur. Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 eingeführt worden. Gemäß Artikel 13 ist das Gesetz am Tag nach seiner Verkündung in Kraft getreten. Das Gesetz wurde im Bundesgesetzblatt Jahrgang 2011 Teil 1 Nr. 59, ausgegeben am 25.11.2011, verkündet. Eine Übergangsregelung bezüglich bereits gestellter Duldungsanträge enthält das Gesetz nicht. Dass für bereits gestellte Duldungsanträge eine von allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Zuständigkeitsregelungen abweichende Verfahrenspraxis fortgelten soll, lässt sich dem materiellen Recht auch im Übrigen nicht entnehmen.

Lediglich ergänzend Ist darauf hinzuweisen, dass im konkreten Fall auch nicht ersichtlich ist, dass mit Inkrafttreten der Regelung des § 61 Abs. 1 Satz 4 AufenthG und den sich daraus ergebenden Folgen für die örtliche Behördenzuständigkeit die Rechte der Kläger nachträglich verkürzt worden wären. Die Kläger waren bereits anfänglich parallel vorgegangen, indem sie zeitgleich in Bremen die Erteilung einer sog. Zweitduldung und beim Beigeladenen eine Umverteilung nach Bremen - beantragt haben. Ihr Duldungsbegehren für Bremen können die Kläger in dem beim Beigeladenen noch nicht abgeschlossenen Verfahren weiterverfolgen. Ebenso ist nicht ersichtlich, dass es für die Kläger in der Sache schwieriger geworden wäre, eine Duldung für den Bereich der Stadtgemeinde Bremen zu erhalten. Nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Bremen konnte eine Zweitduldung nur erteilt werden, wenn dies aus Gründen höherrangigem Rechts unabdingbar war. Nach der Neuregelung des § 61 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann der räumliche Geltungsbereich einer Duldung jetzt im Wege einer einfachen Ermessensentscheidung ausgedehnt werden, wenn dies der Aufrechterhaltung der Familieneinheit dient. Soweit es nicht um die Aufrechterhaltung sondern um die erstmalige Herstellung einer familiären Einheit geht, wird eine räumliche Ausdehnung der Duldung nach § 61 Abs. 1 Satz 4 AufenthG jedenfalls dann in Betracht kommen, wenn die privaten Interessen an einer Herstellung einer familiären Einheit dem öffentlichen Interesse an einer Beibehaltung der bestehenden räumlichen Beschränkung deutlich überwiegen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 61 AufenthG, Rz. 18). [...]