VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 14.07.2014 - A 1 K 254/14 - asyl.net: M22114
https://www.asyl.net/rsdb/M22114
Leitsatz:

Die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer willkürlichen Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern in Ungarn mit Haftzeiten, die im Durchschnitt mehrere Monate dauern, rechtfertigt es, die aufschiebende Wirkung der Vollziehung einer Abschiebungsanordnung bis zu einer Klärung im Hauptsacheverfahren anzuordnen.

Schlagwörter: systemische Mängel, Aufnahmebedingungen, Dublin-Rückkehrer, Dublinverfahren, Ungarn, Inhaftierung,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 27a,
Auszüge:

[...]

Es bedarf jedoch weiterer, dem Hauptsacheverfahren vorbehaltener Aufklärung, ob der Abschiebung der Antragsteller nach Ungarn zu beachtende zielstaatsbezogene Umstände, die in systemischen Mängeln des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber begründet sind, entgegenstehen. Zielstaatsbezogen ist die Abschiebung in einen Staat, in dem die Dublin II-Verordnung oder die Verordnung (EG) Nr. 604/2013 Europäischen Parlaments des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) Anwendung findet, nur dann unzulässig, wenn der Ausländer systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Staat geltend machen kann. Systemische Mängel sind solche, die entweder bereits im System selbst angelegt sind und von denen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar betroffen sind, oder aber tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem faktisch in weiten Teilen funktionsunfähig wird (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21.02.2014 - 10 A 10656/13 -, Juris, Rn. 46). Diese sind erheblich, wenn sie ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 10.12.2013 - C-394/12 -, Rn. 60 und Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 -, Leitsatz 3). Das heißt, eine Überstellung an den nach der Dublin II-VO zuständigen Mitgliedstaat scheidet aus, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, Juris, Rn. 9). Hat der Asylbewerber im zuständigen "Dublin-Staat" bereits eine relevante Schlechtbehandlung erfahren, führt dies nicht zu einer Absenkung des Maßstabs für die Prüfung der Frage, ob er bei einer Überstellung in diesen Staat von systemischen Mängeln betroffen ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.04.2014 - A 11 S 1721/13 -, Juris, Rn. 42). Dieser Prüfungsmaßstab hat auch in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, der hier aber nach Art. 49 Dublin III-VO noch nicht anzuwenden ist, seinen Niederschlag gefunden.

Die Frage systemischer Mängel des ungarischen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge und der damit verbundene Aufklärungsbedarf besteht im Hinblick auf die in Ungarn zum 01.07.2013 eingeführte Asylhaft (vgl. dazu VG Düsseldorf, Beschluss vom 28. Mai 2014 - 13 L 172/14.A -, juris). Zwar hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits nach Inkrafttreten der ungarischen Asylrechtsänderungen zum 01.07.2013 für Ungarn systemische Mängel verneint (vgl. VG München, Beschluss vom 26.06.2014 - M 24 S 14.50325 -, juris und Hinweis auf EuGH, Große Kammer, Urt. v. 10.12.2013 - C-394/12 - Rn. 60 und 61, NVwZ 2014, 208). Nach dieser Entscheidung des EuGH sind jedoch jetzt neue Erkenntnismittel bekannt geworden, die dem EuGH am 10.12.2013 noch nicht bekannt sein konnten. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedstaat sind insoweit die regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort, welchen bei der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem nach der Dublin II-VO zuständigen Mitgliedstaat besondere Relevanz zukommt (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.05.2014 - 13 L 172/14.A -, juris unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 und EuGH, Urteil vom 30.05.2013 - C-528/11-, juris, Rn 44). Das VG Düsseldorf (vgl. Beschluss vom 28.05.2014 a.a.O.) gelangt auf der Grundlage einer von ihm eingeholten Auskunft des UNHCR vom 09.05.2014 zur Rechtsanwendungspraxis in Ungarn bezüglich der neuen Haftgründe sowie aufgrund der Angaben in dem aktuell veröffentlichten aida-Länderbericht (aida, Asylum Information Database, National Country Report Hungary, Stand: 30.04.2014) zu dem Schluss, dass ernst zu nehmende, hinsichtlich der Schwere und Offensichtlichkeit aber noch weiter aufklärungsbedürftige Anhaltspunkte für eine mit Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 GrCh nicht in Einklang stehende Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen. Nach seinen Ausführungen (Beschluss vom 28. 05.2014 a.a.O.) ließen sich zur Inhaftierungspraxis Ungarns folgende Feststellungen treffen:

"Seit der (Wieder-)Einführung der Asylhaft zum 1. Juli 2013, die erneut eine Inhaftierung von Erstantragstellern ... ermöglicht, wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2013 rund 25 % aller Asylantragsteller auf dieser Grundlage inhaftiert (vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, Frage 1, Seite 1).

Die Gesamtzahl der in diesem Zeitraum gestellten neuen Asylanträge belief sich auf 7.156, während die Anzahl der Inhaftierungen im gleichem Zeitraum 1.762 betrug; die Hafteinrichtungen waren in diesem Zeitraum regelmäßig voll besetzt (vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, zu Frage 1 und Fußnote 1; aida, National Country Report Hungary, S. 4). Nach der Dublin-Verordnung nach Ungarn zurücküberstellte Asylbewerber wurden in diesem Zeitraum flächendeckend inhaftiert (vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014 zu Frage 3, S. 2)."

Zwar stelle der Umstand, so das VG Düsseldorf (a.a.O.), dass das ungarische Asylrecht seit der erneuten Rechtsänderung zum 01.07.2013 - wieder - Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthalte und Ungarn diese neuen Inhaftierungsvorschriften auch tatsächlich anwende, für sich genommen noch keinen begründeten Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems dar, weil auch das unionsrechtliche Regelungssystem seinerseits davon ausgehe, dass eine Inhaftierung von Asylbewerbern - wenn auch unter engen Voraussetzungen - im Einzelfall möglich ist. Artikel 8 und 9 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragten (Neufassung) - AufnahmeRL, gäben den Mitgliedstaaten hierfür ausdrücklich einen rechtlichen Rahmen vor (vgl. VG Düsseldorf a.a.O.). Auch mache Ungarn ersichtlich nicht mehr in einem so umfassenden Umfang von den neuen Haftregelungen Gebrauch wie noch im Zeitraum bis zum 01.01.2013 nach der früheren Rechtslage. Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergäben sich aber ungeachtet dessen sowohl hinsichtlich des Verfahrens der Haftanordnung durch die zuständige Verwaltungsbehörde (sog. Office of Immigration and Nationality - OIN) als auch mit Blick auf die gegen die Haftanordnung bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Anhaltspunkte für eine grundrechtsverletzende, insbesondere willkürliche und nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügende Inhaftierungspraxis, der die Asylbewerber rechtsschutzlos ausgeliefert zu sein schienen. Es sei vollkommen intransparent und daher nicht vorhersehbar, welche Asylbewerber in Ungarn verhaftet würden und welche nicht und warum, so dass sich grundsätzlich alle Asylbewerber bei der Erstantragstellung dem nicht einschätzbaren Risiko einer willkürlichen Inhaftierung ausgesetzt sähen, ohne dass das vorhandene Rechtsschutzsystem geeignet sei, Asylbewerbern wirksamen Schutz vor einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung von regelmäßig erheblicher Dauer zu bieten (vgl. hierzu insges. VG Düsseldorf a.a.O. Rn. 68 ff., Rn. 96). Soweit ausweislich des aida Länderberichts (aida, National Country Report Hungary, S. 48) nach neuem Recht unbegleitete Minderjährige nicht inhaftiert werden dürften und u.a. Familien mit Kindern - obwohl rechtlich möglich - tatsächlich nicht in Asylhaft genommen würden, bleibe schon offen, ob dies auch auf die Personengruppe der Dublin-Rückkehrer zutreffe (VG Düsseldorf a.a.O. Rn 85).

Angesichts dieser Ausführungen des VG Düsseldorf spricht auch nach Auffassung der entscheidenden Kammer jedenfalls nach der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung Einiges dafür, dass Dublin-Rückkehrer nach ihrer Ankunft in Ungarn grundsätzlich, ohne Angabe von Gründen und ohne eine Prüfung ihrer individuellen Umstände inhaftiert werden, sonstige Asylbewerber grundsätzlich jedenfalls dem Risiko einer willkürlichen Inhaftierung ausgesetzt sind und beide Gruppen mangels wirksamer Rechtsschutzmöglichkeiten die Anordnung der Haft bzw. die Haftfortdauer nicht mit Aussicht auf Erfolg überprüfen lassen können. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer solchen Behandlung von Asylbewerbern - nicht zuletzt angesichts von Inhaftierungszeiten, die im Durchschnitt mehrere Monate betragen - rechtfertigt es, die aufschiebende Wirkung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung bis zu einer Klärung im Hauptsacheverfahren auszusetzen (so auch VG München, Beschluss vom 26. Juni 2014 - M 24 S 14.50325 -, juris unter Hinweis auf VG Düsseldorf B. v. 28. Mai 2014 - 13 L 172/14.A - a.a.O.; VG Oldenburg B. v. 18.6.2014 - 12 B 1238/14 - juris Rn. 38). [...]