VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 24.07.2014 - 4 B 9719/14 - asyl.net: M22169
https://www.asyl.net/rsdb/M22169
Leitsatz:

Vor dem Hintergrund, dass eine grundsätzliche Klärung der Frage, ob das Asylsystem in Italien mit systemischen Mängeln behaftet ist, durch den EGMR noch aussteht und unter Berücksichtigung jüngerer Erkenntnisse ist die Frage derzeit als offen anzusehen. Dementsprechend überwiegt das private Interesse der Betroffenen an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet.

Schlagwörter: Dublinverfahren, einstweilige Anordnung, Eilanordnung, EGMR, systemische Mängel, Italien, Aufnahmebedingungen, Asylverfahren, Dublin III-Verordnung,
Normen: EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die Frage, ob in Italien systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in diesem Sinne vorliegen, sieht das Gericht bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung als offen an.

Zwar hat der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Entscheidung vom 02.04.2013 (Mohammed Hussein u. a. vs. Niederlande und Italien, Nr. 27725/10, dort insbesondere Rdnr. 78; ZAR 2013, 336) unter Auswertung umfangreicher Auskünfte zu den Verhältnissen in Italien die Auffassung vertreten, dass Asylsuchende im Falle einer Rückführung nach Italien keiner ernsthaften und unmittelbar drohenden Gefahr ausgesetzt sind, in materieller, physischer oder psychischer Hinsicht in eine Notlage zu geraten, die ausreichend gravierend ist, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Der Gerichtshof stellt fest, dass in Italien kein systemischer Mangel an Unterstützung und Einrichtungen für Asylsuchende (als eine besonders verletzliche Personengruppe) bestehe, obwohl die allgemeine Situation und insbesondere die Lebensumstände von Asylsuchenden, anerkannten Flüchtlingen und Personen mit einem subsidiären Schutzstatus in Italien gewisse Mängel aufwiesen. Die vorliegenden Berichte zeigten detailliert eine Struktur von Einrichtungen und Versorgung auf, zudem seien in letzter Zeit gewisse Verbesserungen festzustellen. Gerade im Hinblick auf die Situation von Dublin-Rückkehrern verweist der Gerichtshof auf Berichte, nach denen Asylverfahren in dem Stadium wieder aufgenommen würden, in dem sie sich befunden hätten, als die Asylsuchenden Italien verlassen hätten.

Da der Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung von Art. 3 EMRK eine Orientierungs- und Leitfunktion zukommt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.08.13 - 2 BvR 1380/08 -, juris Rdnr. 28) erscheinen Rückführungen nach Italien somit als grundsätzlich zumutbar (ebenso VG Augsburg, Urt. v. 18.07.2013.- Au 6 K 13.30132 -; VG Hamburg, Urt. v. 18.07.2013 - 10 A 581/13 -; VG Bayreuth, Beschl. v. 11.07.2013 - B 3 S 13.30164 -; VG Düsseldorf Urt. v. 27.06.2013 - 6 K 7204/12.A -; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.06.13 - OVG 7 S 33.13 -; BayVGH, Beschl. v. 06.02.2013 - 20 ZB 12.30286 - jeweils m.w.N., juris).

Seine Entscheidung vom 02.04.2013 hat der Gerichtshof jedoch selbst in Frage gestellt. Denn in einem die Überstellung einer afghanischen Familie nach Italien betreffenden Verfahren (Golajan Tarakhei vs. Schweiz, Nr. 29217/12) hat der EGMR die Große Kammer angerufen. Nach Art. 30 EMRK ist die Abgabe einer Rechtssache an die Große Kammer nur möglich, wenn eine bei einer Kammer anhängige Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung dieser Konvention oder der Protokolle dazu aufwirft oder die Entscheidung einer vorliegenden Frage zu einer Abweichung von einem früheren Urteil des Gerichtshofs führen kann. Die Zumutbarkeit von Rückführungen nach Italien wird in den Kammern des Gerichtshofes also möglicherweise unterschiedlich beurteilt und soll nunmehr grundsätzlich geklärt werden. Diese Annahme wird gestützt durch Äußerungen des niederländischen EGMR-Richters Silvis, der bei der ERA-Konferenz in Trier Ende Oktober 2013 zur Überstellung nach Italien erklärt haben soll, der Fall Mohammed Hussein sei zunächst als "leading case" geplant und deswegen von der 3. Sektion des Gerichtshofs ausführlich begründet worden. Die 5. Sektion des Gerichtshofs habe aber im Fall Tarakhel beschlossen, eine gegenteilige Auffassung zu vertreten (so RA Bender, Frankfurt und Dr. Hruschka, UNHCR im Infosystem des Netzwerkes Migrationsrecht, www.asyl.dav.de/Dokumente/.../Europabericht_6-2012.pdf). Entscheidend ist, dass der EGMR offenbar eine grundsätzliche Entscheidung zu dieser Frage anstrebt. Das Verfahren Tarakhel vs. Schweiz wurde am 12.02.2014 mündlich verhandelt, eine Entscheidung steht noch aus.

Hinzu kommen Fälle, in denen der Gerichtshof die angeordnete Abschiebung nach Italien auf der Grundlage von Art. 39 seiner Verfahrensordnung zunächst vorläufig ausgesetzt hat. Derartige Eilanordnungen ergehen nach der ständigen Praxis des Gerichtshofs nur dann, wenn eine unmittelbare Gefahr nicht wiedergutzumachenden Schadens droht (Entscheidungen der Großen Kammer v. 04.02.2005, Mamatkulov und Askarov vs.Türkei, Nr. 46827/99 und 46951/99, EuGRZ 2005, 357, Rn. 106 f. und vom 10.03.2009, Paladi vs. Moldawien, Nr. 39806/05 Rn. 86-90). So wurde eine bereits am 24.12.12. ausgesprochene "Art. 39"-Entscheidung aufrechterhalten, die die Abschiebung einer afghanischen Familie mit zwei Kindern von Dänemark nach Italien betraf (Nr. 4346/12). Am 30.01.14 setzte der EGMR erneut die Abschiebung einer Alleinerziehenden mit Kindern nach Italien aus mit Hinweis auf das Risiko "of future violations due to the inadequate reception conditions" (Nr. 9624/14) .

Nach alledem sieht das Gericht die Rechtsprechung des EGMR zur Zumutbarkeit von Abschiebungen nach Italien als offen an. Auch in der Rechtsprechung deutscher Gerichte wird die Situation unterschiedlich bewertet. So kommt das VG Frankfurt in seinem Urteil vom 09.07.2013 auch auf der Grundlage eben der Auskünfte, die auch dem EGMR bei seiner Entscheidung vom 02.04.2013 vorgelegen haben, zu dem Schluss, dass die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Italien systemische Mängel aufweisen und der Asylsuchende daher ernsthaft Gefahr läuft, einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 EU-GR-Charta ausgesetzt zu werden (7 K 560/11.F.A ; ebenso VG Stade, Beschl. v. 10.02.2014 - 6 B 123/14 -; VG Braunschweig, Urt. v. 20.09.2013 - 7 A 25/13 -; jeweils juris). In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird jedoch - soweit dem Gericht ersichtlich - durchgängig die gegenteilige Auffassung vertreten (vgl. etwa OVG Lüneburg, Beschl. v. 30.01.2014 - 4 LA 167/13 - und v. 18.03.2014 - 13 LA 75/13 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.02.2014 - 10 A 10656/13 -; OVG Münster, Urt. v. 07.03.2014 - 1 A 21/12.A -; jeweils juris) Mit dem Umstand, dass die Bewertung der Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Italien in der Rechtsprechung des EGMR zumindest nicht unumstritten ist, setzen sich diese Entscheidungen allerdings nicht substantiiert auseinander.

Vor dem Hintergrund, dass eine grundsätzliche Klärung der Frage durch den EGMR noch aussteht und unter Berücksichtigung der jüngsten in den o.g. Entscheidungen des VG Frankfurt und des VG Stade genannten Erkenntnisse sieht das Gericht die Frage, ob in Italien systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen gegeben sind, derzeit als offen an. Bei Abwägung der widerstreitenden Belange überwiegt daher das private Interesse der Antragstellerin an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet das - mit dieser Entscheidung nur zeitlich hinausgeschobene - Abschiebungsinteresse der Antragsgegnerin. [...]