VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 08.09.2014 - M 2 K 14.30574 - asyl.net: M22258
https://www.asyl.net/rsdb/M22258
Leitsatz:

Bei kontinuierlich sich entwickelnden Dauersachverhalten wie der Entfaltung von Glaubensaktivitäten nach der Taufe eines ehemals muslimischen Iraners ist für die Berechnung der Dreimonatsfrist für ein Wiederaufgreifen der Zeitpunkt des Qualitätsumschlags entscheidend. Bei der Bestimmung dieses Zeitpunkts darf kein zu kleinlicher Maßstab angelegt werden.

Schlagwörter: Iran, Christen, Konvertiten, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Wiederaufnahme, Asylfolgeantrag, Drei-Monats-Frist, Dauersachverhalte, Glaubensaktivitäten, Apostasie, missionieren, Wiederaufgreifen, Wiederaufnahme des Verfahrens,
Normen: AsylVfG § 28, VwVfG § 51 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 3, VwVfG § 51, AsylVfG § 71, AsylVfG § 3, AsylVfG § 71 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. Der Kläger hat gegen die Beklagte im Zusammenhang mit seiner Konversion zum Christentum Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§§ 3 ff. AsylVfG).

Der Kläger hat den Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§§ 3 ff. AsylVfG) im Wege eines Folgeantrags (§ 71 AsylVfG) geltend gemacht. Vom Gericht zu prüfen sind dabei nicht nur die Voraussetzungen des § 71 AsylVfG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, sondern auch die materiellen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylVfG. Das Gericht hat die Sache nach Möglichkeit spruchreif zu machen und abschließend zu entscheiden (st. Rspr. seit BVerwG, U. v. 10.2.1998 - Az. 9 C 28.97 - juris; ferner: BVerwG, U. v. 20.10.2004 - 1 C 15.03 - juris; BayVGH, B. v. 10.5.2006 - 1 ZB 06.30447 - juris; VGH Mannheim, U. v. 19.06.2012 - A 2 S 1355/11 -; vgl. auch Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, Stand Januar 2014, § 71 Rdnr. 295 und 278 jew. m.w.N.).

Vorliegend liegen im Zusammenhang mit der Konversion des Klägers zum Christentum die Voraussetzungen des § 71 AsylVfG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vor (sogleich a)). Außerdem sind insoweit die materiellen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylVfG gegeben (sogleich b)). Die Nachfluchttatbestände regelnden Bestimmungen des § 28 AsylVfG stehen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Fall des Klägers nicht entgegen (sogleich c)).

a) Stellt ein Ausländer nach Rücknahme (hier: Schreiben vom 21. Juni 2009 hinsichtlich Art. 16a GG und § 60 Abs. 1 AufenthG a.F.) oder unanfechtbarer Ablehnung (hier: infolge rechtskräftigen Urteils vom 29. August 2011 hinsichtlich § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG a.F.) eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (hier: Antrag vom 12. Dezember 2013), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen (§ 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG). Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers im Zusammenhang mit seiner Konversion zum Christentum gegeben:

Diesbezüglich hat sich die Sach- und Rechtslage nachträglich zugunsten des Klägers geändert (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) und liegen in Gestalt der diversen Bestätigungen Dritter über die Glaubensbetätigung des Klägers auch neue Beweismittel vor, die eine dem Betroffenen günstige Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). In diesem Zusammenhang genügt bereits ein schlüssiger Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung zu verhelfen; es genügt mithin schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe (BVerfG, B. v. 3.3.2000 - 2 BvR 39/98 - juris Rn. 32 m.w.N.).

Zu Unrecht meint die Beklagte, § 51 Abs. 3 VwVfG stehe der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens entgegen. Gemäß § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG ist der Antrag binnen einer Frist von drei Monaten zu stellen, wobei die Frist gemäß § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat. Zwar ist auch bei Dauersachverhalten grundsätzlich die erstmalige Kenntnisnahme von den Umständen für den Fristbeginn maßgeblich. Bei sich prozesshaft und kontinuierlich entwickelnden Sachverhalten ist indes entscheidend, wann sich die Entwicklung der Sachlage insgesamt so verdichtet hat, dass von einer möglicherweise entscheidungserheblichen Veränderung im Sinne eines Qualitätsumschlags gesprochen werden kann (dazu eingehend Funke-Kaiser, a.a.O., § 71 Rn. 226 m.w.N.). Unbeschadet des Umstands, dass bei Versäumen der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG in Bezug auf die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach Ermessen (§ 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG) möglich bleibt (BVerwG, U. v. 21.3.2000 - 9 C 41.99 - juris Rn. 10), darf hierbei angesichts der tatsächlichen Schwierigkeiten, welche die Bestimmung des Zeitpunkts des Qualitätsumschlags bei sich fortentwickelnden Dauersachverhalten für den Betroffenen mit sich bringt, kein zu kleinlicher Maßstab angelegt werden (Funke-Kaiser, a.a.O.). Daran gemessen ist vorliegend festzustellen, dass zum Zeitpunkt der Folgeantragstellung am 12. Dezember 2013 die Dreimonatsfrist noch nicht abgelaufen war Die Argumentation der Beklagten, der Kläger sei am 25. November 2012 getauft worden, weshalb der Folgeantrag spätestens am 25. Februar 2013 gestellt hätte werden müssen, greift zu kurz. Zu Recht weist der Kläger darauf hin, dass der formale Übertritt zum Christentum durch eine kirchenrechtlich wirksame Taufe für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht ausreicht (VGH Mannheim, B. v. 23.4.2014 - A 3 S 269/14 - juris Rn. 6 m.w.N.; OVG Lüneburg, B. v. 7.3.2014 - 13 LA 118/13 - juris Rn. 4 m.w.N.; OVG Münster, B. v. 24.5.2013 - 5.A 1062/12.A - juris Rn. 8 ff. m.w.N.; BayVGH, B. v. 7.5.2013 - 14 ZB 13.30082 - juris Rn. 5 m.w.N.; a.A.: VG Stuttgart, U. v. 20.9.2013 - A 11 K 5/13 -; VG Schwerin, U. v. 13.2.2013 - 3 A 1877/10 As - juris Rn. 165 ff.). Es ist nicht vorstellbar, dass der Beklagten die bloße Mitteilung der Taufe ausgereicht hätte, um ein Folgeverfahren durchzuführen. Frühestens die Glaubensaktivitäten des Klägers in der Zeit nach der Taufe, die der Kläger maßgeblich erst durch die Bescheinigungen des Pastors von der Freien Evangelischen Gemeinde in ... vom 28. November 2013, des ... vom Projekt C.O.R.N. vom 8. Oktober 2013 sowie des ... von "Jugend mit einer Mission" vom 8. Oktober 2013 nachweisen konnte, haben zu einem Qualitätsumschlag geführt, der eine für den Kläger günstige Entscheidung möglich erscheinen ließ. Angesichts dessen war die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG bei Folgeantragsstellung am 12. Dezember 2013 noch nicht abgelaufen.

Schließlich steht auch § 51 Abs. 2 VwVfG der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht entgegen. Da das erste Asylverfahren hinsichtlich Art. 16a GG und § 60 Abs. 1 AufenthG a.F. (jetzt §§ 3 ff. AsylVfG) bereits durch Rücknahme des Asylantrags mit Schreiben vom 21. Juni 2009 und hinsichtlich § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG a.F. (jetzt § 4 AsylVfG) infolge rechtskräftigen Urteils vom 29. August 2011 unanfechtbar abgeschlossen war, war es dem Kläger nicht möglich gewesen, seine sich frühestens mit o.g. Glaubensaktivitäten im Sinne eine Qualitätsumschlags verdichtende Hinwendung zum Christentum im ersten Asylverfahren geltend zu machen.

b) Es liegen im Fall des Klägers im Zusammenhang mit seiner Hinwendung zum Christentum auch die materiellen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§§ 3 ff. AsylVfG) vor.

Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG ist u.a., wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung (§ 3a AsylVfG) wegen seiner Religion (§ 3b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AsylVfG) außerhalb seines Herkunftslandes (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG) befindet. Dabei bestimmen sich die Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, nach § 3c AsylVfG sowie die Akteure, die Schutz bieten können, nach § 3d AsylVfG. Ausgeschlossen ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft u.a., wenn für den Ausländer interner Schutz in einem Teil seines Herkunftslands (§ 3 e AsylVfG) gewährleistet ist.

aa) Für das Gericht steht aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel außer Frage, dass zum Christentum konvertierten Muslimen durch die Glaubensausübung im Iran landesweit vom iranischen Staat oder diesem zurechenbaren Akteuren ausgehende Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylVfG drohen, mithin die Voraussetzungen der §§ 3 ff. AsylVfG vorliegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in die Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben, schwerwiegende Verletzungen der Religionsfreiheit darstellen (BVerwG, U. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 24; vgl. auch EuGH, U. v. 5.9.2012 - C-71/11 u.a. - juris Ziff. 73 ff.).

Das Auswärtige Amt führt im aktuellen Lagebericht vom 11. Februar 2014 auf S. 5, 21 ff. u.a. aus, dass im Iran Nichtmuslime im gesellschaftlichen Leben diskriminiert würden. Ehemals muslimischen Konvertiten drohe Verfolgung und Bestrafung, der Abfall vom Islam (Apostasie) werde im Iran hart bestraft. Für Männer, die sich vom Islam abwenden, sehe das Gesetz die Todesstrafe vor. In Einzelfällen würden Gerichtsverfahren eingeleitet, Verurteilungen erfolgten allerdings oft nicht wegen Apostasie, sondern wegen Sicherheitsdelikten. Es gebe allerdings auch Konvertiten, die unbehelligt eine der anerkannten Religionen ausübten. Die Konvertiten und die Gemeinden, denen sie angehörten, stünden jedoch insofern unter Druck, als den Konvertiten hohe Strafen drohten und auch die Gemeinden mit Konsequenzen rechnen müssten (z.B. Schließung), wenn die Existenz von Konvertiten in der Gemeinde öffentlich bekannt würde. Außerdem werde die Ausübung der Religion restriktiv ausgelegt und schließe jede missionierende Tätigkeit aus. Missionierende Angehörige auch von Buchreligionen würden verfolgt und hart bestraft, ihnen könne sogar eine Verurteilung zum Tode drohen. In Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. etwa OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 7.11.2012 - 13 A 1999/07.A - juris Rn. 48 ff. m.w.N.; HessVGH, U. v. 18.11.2009 - 6 A 2105/08.A - juris Rn. 34 ff. m.w.N.; SächsOVG, U. v. 3.4.2008 - A 2 B 36/06 - juris Rn. 34 ff.; BayVGH, U. v. 23.10.2007 - 14 B 06.30315 - juris Rn. 20 f.; insoweit auch zu weiteren Erkenntnismitteln) ist deshalb davon auszugehen, dass zum Christentum konvertierten Muslimen durch die Glaubensausübung im Iran eine Verfolgung im Sinne der §§ 3 ff. AsylVfG droht.

bb) Die Annahme einer solchen Verfolgungsgefährdung setzt im konkreten Einzelfall allerdings voraus, dass die vorgetragene Hinwendung des Asylsuchenden zu der angenommenen Religion auf einer inneren Glaubensüberzeugung beruht, mithin eine ernsthafte, dauerhafte und nicht lediglich auf Opportunitätserwägungen oder asyltaktischen Gründen beruhende Hinwendung zum Christentum vorliegt und der neue Glaube die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt. Hierzu gehört auch, aber nicht nur, dass dem Konvertiten die wesentlichen Grundelemente seiner neuen Religion vertraut sind, wobei seine Persönlichkeit und seine intellektuellen Fähigkeiten zu berücksichtigten sind. Allein der formale Übertritt zum Christentum durch die Taufe genügt nicht (siehe dazu bereits oben). Vielmehr muss glaubhaft sein, dass der Betreffende seinen neuen Glauben in einer Weise verinnerlicht hat, dass es ihm ein tief empfundenes Bedürfnis ist, diesen Glauben auch im Fall der Rückkehr in das Herkunftsland ungehindert leben zu können. Hingegen ist nicht zu erwarten, dass ein Asylsuchender nach der Rückkehr in sein Herkunftsland eine Religion entsprechend lebt, die er in seinem Zufluchtsland nur vorgeblich, oberflächlich oder aus asyltaktischen Gründen angenommen hat (zum Ganzen: OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 7.11.2012 - 13 A 1999/07.A - juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

Im Fall des Klägers ist das Gericht bei eingehender Gesamtwürdigung aller Umstände, insbesondere aufgrund der vorgelegten Bescheinigungen und Bestätigungen Dritter, der vorgelegten persönlichen Stellungnahmen des Klägers zu seinem Glauben, der Angaben des Klägers, des ... und des ... in der mündlichen Verhandlung sowie nicht zuletzt aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass die Hinwendung des Kläger zum Christentum tatsächlich auf einer inneren Glaubensüberzeugung beruht, die hinreichend ernsthaft, dauerhaft und identitätsprägend ist, und der Kläger diesen Glauben auch im Fall der Rückkehr in den Iran tatsächlich leben wollte. [...]