VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 02.04.2014 - 10 A 465/12 - asyl.net: M22313
https://www.asyl.net/rsdb/M22313
Leitsatz:

1. Einem homosexuellen Iraner droht bei Rückkehr in sein Herkunftsland zumindest erniedrigende Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG, wenn nicht sogar die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe.

2. Ob eine schwere Straftat im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG vorliegt, ist unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls, der Einordnung als Verbrechen oder Vergehen und der Ausschöpfung des Strafrahmens zu ermitteln.

3. Der Streitgegenstand der Zuerkennung subsidiären Schutzes ist in einem Übergangsfall, in dem das Bundesamt über die Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG entschieden hat und hiergegen Klage erhoben wurde, mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 im Dezember 2013 im anhängigen Gerichtsverfahren kraft Gesetzes angewachsen. Hieraus folgt, dass zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung als maßgeblichem Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) nicht ungeprüft bleiben darf, ob dem Kläger ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes zusteht.

4. Ist der Streitgegenstand der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 im gerichtlichen Verfahren angewachsen, steht die Regelung des § 121 VwGO der Zuerkennung des begehrten Schutzes unter Zugrundelegung desselben Vorbringens wie in einem früheren gerichtlichen Verfahren nicht entgegen, da es sich insoweit um einen anderen Streitgegenstand handelt.

5. Nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 am 1. Dezember 2013 ist ein von einem Ausländer gestellter "Asylfolgeantrag" im Hinblick auf die begehrte Zuerkennung subsidiären Schutzes als Erstantrag zu behandeln und zu bescheiden, ohne dass die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vorliegen müssten.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Iran, homosexuell, Homosexuelle, subsidiärer Schutz, Asylfolgeantrag, Homosexualität,
Normen: AsylVfG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylVfG § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 60 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, VwGO § 121,
Auszüge:

[...]

Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt u.a. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylVfG) sowie Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG). Vorliegend kann dahinstehen, ob der Kläger tatsächlich ein überzeugter Anhänger der religiösen Strömung Erfan ist und ihm deshalb bei einer Rückkehr in den Iran zumindest eine erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht (vgl. zur Verfolgung der Derwische im Iran den Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Islamischen Republik Iran vom 11. Februar 2014, S. 22). Denn es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass ihm jedenfalls aufgrund seiner – unstreitig gegebenen – Homosexualität zumindest erniedrigende Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG, wenn nicht sogar die Verhängung bzw. Vollstreckung der Todesstrafe droht. Im Iran werden homosexuelle Handlungen zwischen Männern strafrechtlich verfolgt, wobei als Regelfall die Todesstrafe vorgesehen ist. Die letzten, dem Auswärtigen Amt bekannten und durch die iranische Justizverwaltung bestätigten Hinrichtungen wegen homosexueller Handlungen erfolgten noch im September 2011. In "weniger schweren Fällen" (z.B. Küssen oder Umarmen) sind geringere Strafen in Form von Peitschenhieben vorgesehen. Nach Art. 234 des neuen iranischen StGB droht auch dem "aktiven" Part nicht mehr die Todesstrafe, sofern er unverheiratet ist; stattdessen wird er mit 100 Peitschenhieben bestraft (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O., S. 26).

Die von dem Kläger in der Vergangenheit begangenen Straftaten stehen der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht entgegen. Zwar ist gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG ein Ausländer von der Zuerkennung nach § 4 Abs. 1 AsylVfG ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat. Sinn und Zweck dieser Regelung besteht – der Zielsetzung der Regelung des Art. 17 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU entsprechend, deren Umsetzung § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG dient (BT-Drucks. 17/13063, S. 20) – darin, solche Personen von der Zuerkennung des subsidiären Schutzes auszunehmen, die als dieses Schutzes unwürdig anzusehen sind (vgl. zu dieser Auslegung EuGH, Urt. v. 9.11.2010, C-57/09 u.a., Rn. 104 zu der Parallelregelung für den Ausschluss des Flüchtlingsstatus in Art. 12 Abs. 2 lit. b der Richtlinie 2004/83/EG; VGH München, Urt. v. 20.3.2013, 19 BV 11.288, Rn. 55 – jeweils zitiert nach juris). Hiervon ist auszugehen, wenn die von dem Ausländer begangene Straftat im Ergebnis den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit berührt, wobei die Einstufung als Verbrechen für sich allein noch nicht ausreicht, um diese Voraussetzung zu erfüllen (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 10.5.2011, 1 A 306/10 u. a., Rn. 112 m. w. Nachw. – zitiert nach juris). Dies kann etwa bei Kapitalverbrechen wie Mord und Totschlag, daneben aber auch Raub und Kindesmissbrauch, Entführung, schwere Körperverletzung und Drogenhandel anzunehmen sein. Allerdings darf dabei der in den Strafvorschriften jeweils enthaltene Strafrahmen nicht unberücksichtigt bleiben. Ist dieser weit und schöpft der Strafrichter ihn aufgrund der konkreten Umstände des Falles nur in geringem Umfang aus, kann nicht von einer schweren Straftat ausgegangen werden (OVG Bremen, a.a.O.).

Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, ist keine der zahlreichen von dem Kläger begangenen Straftaten – der Bundeszentralregisterauszug vom 13. Juli 2012 weist 22 Eintragungen aus – als den subsidiären Schutz ausschließende schwere Straftat anzusehen. Insbesondere der in der Nacht zum 10. September 2007 begangene Raub in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, für den der Kläger mit Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 28. Mai 2008 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden ist, vermag eine solche Annahme nicht zu rechtfertigen. Bei dem Raub handelt es sich zwar um ein Verbrechen (vgl. §§ 249 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB); das Strafgericht hat den vorgesehenen Strafrahmen von einem Jahr bis zu 15 Jahren (vgl. § 38 Abs. 2 StGB) indes bei weitem nicht ausgeschöpft. Auch die Umstände der Tat – der Kläger hatte in einem Lokal einem Kellner aufgrund eines spontanen Entschlusses einen heftigen Faustschlag in die untere Gesichtshälfte versetzt und ihm ein Geldbündel im Wert von 635,- EUR aus der Hand gerissen, um es für sich zu behalten; der Geschädigte hatte erhebliche Schmerzen erlitten, ein großflächiges Hämatom und eine lang andauernde Schwellung davongetragen und war nach der Tat zwei Monate arbeitsunfähig gewesen – führen nicht dazu, dass der Kläger als der Zuerkennung des subsidiären Schutzes unwürdige Person anzusehen ist.

Auch der Umstand, dass die Homosexualität des Klägers bereits Gegenstand eines früheren Folgeverfahrens gewesen und die Beklagte in dieser Hinsicht mit Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 13. August 2002 (10 VG A 1574/2001) verpflichtet worden ist, über den Antrag auf Abänderung der im Bescheid vom 27. März 1995 getroffenen Entscheidung zu § 53 AuslG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden, steht der mit dem vorliegenden Urteil ausgesprochenen Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zuzuerkennen, nicht entgegen. Insbesondere die Regelung des § 121 VwGO hindert das erkennende Gericht nicht, die Beklagte mit dem vorliegenden Urteil zu verpflichten, dem Kläger unter Zugrundelegung desselben Vorbringens wie im damaligen gerichtlichen Verfahren nunmehr einen für ihn günstigeren Status zuzuerkennen. Denn ein formell rechtskräftiges Urteil erwächst nur in den durch § 121 festgelegten Grenzen in materielle Rechtskraft, nämlich "soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist" (Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 25. Erg.lieferg. 2013, § 121 Rn. 45). Der mit der vorliegenden Klage hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG war indes noch gar nicht Gegenstand des Urteils vom 13. August 2002 in der Sache 10 VG A 1574/2001. Dieser Streitgegenstand ist vielmehr erst mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes kraft Gesetzes und unabhängig vom Handeln der Verfahrensbeteiligten im vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren angewachsen (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.9.2011, 10 C 14/10, Rn. 9 – zitiert nach juris). Hieraus wiederum folgt, dass zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung als maßgeblichem Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) nicht ungeprüft bleiben darf, ob dem Kläger im Hinblick auf seine Homosexualität ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes zusteht. Dies leitet das erkennende Gericht in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur gesetzlichen Erweiterung des Streitgegenstandes der Asylklage um die Prüfung der Voraussetzungen des flüchtlingsrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (BVerwG, Urt. v. 18.2.1992, 9 C 59/91, Rn. 8 ff. – zitiert nach juris) bzw. um die Prüfung der Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots (BVerwG, Urt. v. 8.9.2011, 10 C 14/10, Rn. 9 ff.; Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, Rn. 16; Urt. v. 29.6.2010, 10 C 10/09, Rn. 6 – jeweils zitiert nach juris) her:

Mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 28. August 2013 am 1. Dezember 2013 (vgl. Art. 7 Richtlinienumsetzungsgesetz) ist der Inhalt des Asylantrags und damit der Gegenstand des Asylverfahrens erweitert worden. Nach § 13 Abs. 1 AsylVfG in der seit 1. Dezember 2013 geltenden Fassung liegt ein Asylantrag vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylVfG droht. Nach § 13 Abs. 2 AsylVfG wird mit jedem Asylantrag die Anerkennung als Asylberechtigter sowie internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG – zu dem auch die Zuerkennung subsidiären Schutzes zählt – beantragt. Aufgrund der Neufassung des § 13 Abs. 1 und Abs. 2 AsylVfG ist ein Asylantrag somit ab 1. Dezember 2013 dahin auszulegen, dass damit nicht nur die Anerkennung als Asylberechtigter sowie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, sondern auch die Zuerkennung subsidiären Schutzes begehrt wird. Dementsprechend ist die Beklagte verpflichtet, ausdrücklich – von Amts wegen – auch über diesen Teil des Asylantrags zu befinden. Gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG ist in Entscheidungen über beachtliche Asylanträge ausdrücklich festzustellen, ob dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft "oder der subsidiäre Schutz zuerkannt wird" und ob er als Asylberechtigter anerkannt wird. Das Begehren auf Zuerkennung subsidiären Schutzes, das auf Anerkennung als Asylberechtigter und das auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind damit drei Bestandteile eines einheitlichen Asylbegehrens. Der Streitgegenstand der Zuerkennung subsidiären Schutzes ist in einem Übergangsfall wie dem vorliegenden, in dem die Beklagte über die Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG entschieden hat und hiergegen Klage erhoben wurde, mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im Dezember 2013 im anhängigen Gerichtsverfahren kraft Gesetzes angewachsen. Es ist nicht erkennbar, dass die Neubestimmung des Asylantragsbegriffs für Anträge, die bereits vor dem 1. Dezember 2013 (noch nicht bestandskräftig) beschieden worden sind und im Zeitpunkt der Gesetzesänderung bei Gericht rechtshängig waren, noch nicht gelten soll.

Unerheblich in diesem Zusammenhang ist, ob im vorliegenden Verfahren die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt sind, insbesondere ob es sich bei der Neufassung des § 4 Abs. 1 AsylVfG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 28. August 2013 um eine Änderung der Rechtslage zugunsten des Klägers (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) handelt. Denn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG müssten nur dann erfüllt sein, wenn es sich bei dem unter dem 18. Juni 2012 verfassten "Asylfolgeantrag" des Klägers tatsächlich um einen Folgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG handelte. Dies ist jedoch im Hinblick auf den auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gerichteten Bestandteil des Asylantrags nicht der Fall. Insoweit ist der "Asylfolgeantrag" des Klägers vielmehr als Erstantrag zu behandeln und, ohne dass die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vorliegen müssten, zu bescheiden. Ein Folgeantrag liegt nach der Legaldefinition des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nur dann vor, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt. Die früheren Asylanträge des Klägers sind indes nur im Hinblick auf die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar abgelehnt worden. Über den Antrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes hingegen ist – da dieser wie ausgeführt erst mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 1. Dezember 2013 Bestandteil des Asylantrags geworden ist, vgl. § 13 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG n. F. – bislang noch zu keinem Zeitpunkt unanfechtbar entschieden worden. [...]