VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 28.08.2014 - 5 L 532/14.A - asyl.net: M22329
https://www.asyl.net/rsdb/M22329
Leitsatz:

Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass in Ungarn die durch Art. 4 der Grundrechte-Charta geschützten Rechte von Asylsuchenden verletzt werden.

Schlagwörter: Ungarn, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, Aufnahmebedingungen, Inhaftierung, Dublin-Rückkehrer,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 34a, AsylVfG § 26a, AsylVfG § 27a, GR-Charta ARt. 4,
Auszüge:

[...]

In einer Situation, in der - wie hier - ein Mitgliedstaat der (Wieder-)Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe eines der in der Dublin III-VO niedergelegten Kriterien zugestimmt hat, kann der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums - unionsrechtlich - allerdings damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für den Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und [die] durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der GR-Charta ausgesetzt zu werden (vgl. zu diesem Maßstab, EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 - "Abdullahi", Rn. 52 ff., juris).

Von dieser Möglichkeit hat der Antragsteller Gebrauch gemacht. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen bestehen auch Anhaltspunkte für das Vorliegen solcher Mängel im ungarischen Asylsystem. Hierzu hat die 9. Kammer des beschließenden Gerichts in dem Beschluss vom 19. März 2014 - 9, L 141/14/A. - Folgendes ausgeführt:

"Erhebliche Bedenken, dass das ungarische Asylverfahren an systemischen Mängel leidet, folgen bereits aus dem Umstand, dass Ausländer, die auf der Grundlage eines akzeptierten Wiederaufnahmeersuchens nach Ungarn zurückkehren, auch in den Fällen, in denen das Asylverfahren eingestellt worden ist, einen erneuten Asylantrag stellen müssen, der als Asylfolgeantrag behandelt wird (vgl. UNHCR, Ungarn als Asylland, Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn, April 2012).

Ob die zum 1. Januar 2013 eingetretenen Änderungen des ungarischen Asylgesetzes an dieser Rechtslage etwas geändert haben, ist unklar. § 54 Abs. 1 des ungarischen Asylgesetzes (vgl. Act LXXX of 2007 on Asylum, Government Decree 301/2007 (XI.9.) (as of 1 January 2013), abrufbar unter: www.refworld.org/docid/524544c44.html) sieht keine expliziten Einschränkungen mit Blick auf Dublin-Rückkehrer vor.

Stellungnahmen zu diesem Punkt sind unklar. Während es zur Rechtslage bis Ende 2012 (vgl. aida, National Cuntry Report, Hungary, 5. September 2013 abrufbar unter: www.asylumineurope.org/files(resources/hungary_aida_report _july_2013.pdf) eindeutig heißt:

"Asylum seekers returned under a take back procedure were not automatically considered by the Hungarian authorities as asylum seekers. They had to re-apply for asylum once they returned to Hungary. Applicants were required to show new elements in support of their claims, which they could not have raised in their initial applications", betreffen die Ausführungen zur Rechtslage ab dem 1. Januar 2013 im Wesentlichen Fragen der Inhaftierung. Konkrete Angaben dazu, welche Rechtsvorschriften geändert sein sollen, fehlen. Auch die Stellungnahme des UNHCR von Dezember 2012 (vgl. UNHCR, Note on Dublin transfers to Hungary of people who have transited through Serbia - update, December 2012, abrufbar unter: [...] zu den anstehenden Änderungen des ungarischen Asylrechts lässt nicht erkennen, auf Grundlage welcher Änderungen des ungarischen Asylgesetzes nunmehr eine Vollprüfung der Asylanträge wieder aufgenommener Asylantragsteller gewährleistet sein soll.

Ob die zum 1. Juli 2013. erfolgten weiteren Änderungen des ungarischen Asylgesetzes diese Rechtslage geändert haben, kann schon deshalb nicht festgestellt werden, weil diese Änderungen - soweit ersichtlich - bislang nur in ungarischer Sprache vorliegen und sich daher einer Überprüfung im vorliegenden Eilverfahren entziehen. [...]

Unabhängig vom Vorstehenden bestehen erhebliche Bedenken auch dahingehend, dass die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in Ungarn unzureichend sind.

Im Jahr 2012 wurden in Ungarn insgesamt 2.155 neue Asylantragsteller registriert. Im Jahre 2011 waren es 1.693 und in 2010 2.104. Demgegenüber wurden im Jahr 2013 zwischen Januar und Juni über 10.000 neue Antragsteller registriert (vgl. bordermonitoring.eu, Ungarn, Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Oktober 2013, abrufbar unter: bordermonitoring.eu/2012103/zur-situation-der-fluchtlinge-in-ungarn/).

Bis Ende Oktober 2013 soll die Zahl auf 16.930 Personen gestiegen sein (vgl. US-Außenministerium, Menschenrechtsbericht 2013 zu Ungarn, abrufbar unter: [...]

In ungarischen Flüchtlingsunterkünften sollen aber im Juni 2013 insgesamt nur knapp über 2.500 Personen untergebracht sein (vgl. bordermonitoring.eu, Ungarn, Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Oktober 2013, abrufbar unter: [...]

Nachvollziehbare Erklärungen zur angemessenen Unterbringung und Versorgung der in nur einem Jahr um rund 800 % gestiegenen Anzahl von Asylbewerbern sind nicht ersichtlich. Eine ausreichende Unterbringung und Versorgung in ungarischen Haftanstalten ist nicht ohne Weiteres anzunehmen (vgl. zur dortigen Situation: EGMR, Entscheidung vom 2. Juli 2013 - 69095/10 -).

Spekulationen über den Verbleib dieser Personen sind angesichts der in Rede stehenden Größenordnung und der rechtlichen Bedeutung der ggf. tangierten Grundrechte nicht ausreichend, um die angezeigten Bedenken auszuräumen.

Schließlich ist auch zu klären, inwieweit Dublin-Rückkehrer, deren Asylverfahren - so wie vorliegend - eingestellt worden sind (vgl. § 52 Abs. 2a Asylgesetz Ungarn), entgegen, § 54 Abs. 3 Buchstabe b) in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchstabe b) Asylgesetz Ungarn überhaupt vom ungarischen Staat untergebracht und versorgt werden."

Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer an.

Die angesichts des offenen Ergebnisses der rechtlichen Beurteilung des angefochtenen Bescheides erforderliche weitere Abwägung der widerstreitenden Belange, nämlich einer Gefährdung der durch Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützten Rechtsgüter des Antragstellers einerseits und des nur zeitlich gefährdeten Abschiebungsinteresses der Antragsgegnerin andererseits, führt hier zu dem genannten Ergebnis. [...]