VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 23.10.2014 - 28 K 456.12 V (ASYLMAGAZIN 12/2014, S. 436 ff.) - asyl.net: M22479
https://www.asyl.net/rsdb/M22479
Leitsatz:

Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 7 Abs. 2 Unterabschnitt 1 RL 2003/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) betreffend das Recht auf Familienzusammenführung so auszulegen, dass er einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, mit der die erstmalige Einreise eines Familienangehörigen eines Zusammenführenden davon abhängig gemacht wird, dass der Familienangehörige vor der Einreise nachweist, sich auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen zu können?

Schlagwörter: Spracherfordernis, Deutschkenntnisse, Familienzusammenführung, Ehegattennachzug,
Normen: AufenthG § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 30 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 30, RL 2003/86/EG Art. 7 Abs. 2, AufenthG § 30 Abs. 1 S. 3,
Auszüge:

[...]

(16) 1. Die Klägerin benötigt für die Einreise zu dem Zweck, auf Dauer mit ihrem Ehemann in Deutschland zusammen zu leben, gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 (ABl. Nr. L Nr. 81 S. 1) - EG-VisaVO - und deren Anhang 1 sowie § 6 Abs. 3 AufenthG ein nationales Visum. Dessen Erteilung setzt unter anderem voraus, dass die Klägerin das Spracherfordernis des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt, d.h. über Deutschkenntnisse des Niveaus A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) verfügt. Die übrigen Voraussetzungen für die Erteilung des Visums liegen nach Auffassung des vorlegenden Gerichts vor. Der Erfolg der Klage hängt daher von der Vereinbarkeit des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG mit Artikel 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie ab. Diese findet Anwendung, weil der Beigeladene zu 2. Drittstaatsangehöriger ist und als Zusammenführender in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht die Voraussetzungen des Artikels 3 erfüllt. Sollte die nationale Vorschrift nicht mit Artikel 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar und mit Rücksicht darauf unanwendbar sein, hätte die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums. Anderenfalls müsste die Klage abgewiesen werden, weil die Klägerin - unstreitig - nicht über die nach nationalem Recht geforderten einfachen deutschen Sprachkenntnisse des Niveaus A 1 des GER verfügt. Dem Kläger ist ein Visum (nur) zu erteilen, wenn die Klägerin ein Visum erhält, so dass auch für ihn der Ausgang des Rechtsstreits davon abhängt, ob die Klägerin das Spracherfordernis erfüllen muss.

(17) 2. Ein Fall, in dem nach nationalem Recht von dem Erfordernis deutscher Sprachkenntnisse abgesehen werden kann, liegt nicht vor. Die Klägerin erfüllt weder die in § 30 Abs. 1 Satz 2 noch die in § 30 Abs. 1 Satz 3 AufenthG genannten Voraussetzungen. Von dem Erfordernis deutscher Sprachkenntnisse kann vorliegend auch nicht aus Gründen der Unzumutbarkeit abgewichen werden. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht im Falle des Ehegattennachzugs zu einem deutschen Staatsangehörigen entschieden, dass eine verfassungskonforme Auslegung gebiete, von diesem Erfordernis vor der Einreise abzusehen, wenn Bemühungen um den Spracherwerb im Einzelfall nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich seien (BVerwG, Urteil vom 4. September 2012 - BVerwG 10 C 12.12 -, juris, Rdnr. 28). Dem lag jedoch § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG zu Grunde, wonach beim Ehegattennachzug zu Deutschen § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nur "entsprechend" anzuwenden ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu darauf verwiesen, dass sich die Voraussetzungen für den Ehegattennachzug zu einem Deutschen von den Nachzugsvoraussetzungen zu einem Ausländer unterscheiden, weil das Grundrecht des Artikels 11 GG ihm - anders als einem Ausländer - das Recht zum Aufenthalt in Deutschland gewähre (Rdnr. 25 ff.). Selbst wenn man diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall anwendete, ist nicht nachgewiesen, dass der jetzt 35-jährigen Klägerin Bemühungen um den Spracherwerb nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich sein würden.

(18) 3. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist zunächst vom Bundesverwaltungsgericht beim Ehegattennachzug zu in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen nicht beanstandet worden (Urteil vom 30. März 2010 - BVerwG 1 C 8.09 -, juris, Rdnr. 22 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegen deutsches Verfassungsrecht verstößt (Beschluss vom 25. März 2011 - 2 BvR 1413/10 -, juris, Rdnr. 3 ff.). Inzwischen hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Fall, in dem nach Erledigung des Rechtsstreite in der Hauptsache nur noch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden war, folgendes ausgeführt (Beschluss von 28. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 9.10 -, juris, Rdnr. 3):

(19) Aufgrund der Sachlagenänderung waren die Erfolgsaussichten für das Visumbegehren der Kläger nunmehr - anders als bisher - als offen anzusehen. Denn der Familiennachzug fiel damit in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/86/EG, so dass die Frage, ob das Erfordernis einfacher deutscher Sprachkenntnisse in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG mit Artikel 7 Abs. 2 der Richtlinie vereinbar ist, mit Rücksicht auf die inzwischen veränderte Auffassung der Europäischen Kommission (vgl. Stellungnahme vom 4. Mai 2011 (Sj.g <2011> 540657 im Verfahren C-155/11 PPU, Imran) dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung hätte vorgelegt werden müssen.

(20) 4. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 10. Juli 2014 (Rechtssache C-138/13, Dogan, ECLI:EU:C:2014:2088) die Frage, ob Artikel 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie dem nach nationalem Recht geforderten Sprachnachweis entgegensteht, nicht geprüft. Im Hinblick auf seine Ausführungen zur (fehlenden) Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit Artikel 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation vom 23. November 1970 erscheint es allerdings zumindest nicht ausgeschlossen, das Spracherfordernis als mit Artikel 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar anzusehen. Denn selbst die Stillhalteklausel, die im Grundsatz die Einführung strengerer Voraussetzungen als derjenigen verbietet, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten, lässt unter bestimmten Voraussetzungen die Einführung eines Sprachnachweises zu. Dem Urteil in der Rechtssache Dogan (Rdnr. 38) ist zu entnehmen, dass die den Sprachnachweis rechtfertigenden Gründe - die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und die Förderung der Integration - als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen werden könnten, die die Verschärfung der Ausübung der Niederlassungsfreiheit (nur) deshalb nicht rechtfertigen können, weil der fehlende Sprachnachweis automatisch zur Ablehnung der Antrags auf Familienzusammenführung führt, ohne dass besondere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Artikel 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie gibt hingegen den Mitgliedstaaten sogar das Recht, von Drittstaatsangehörigen zu verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen. Diese Maßnahmen können nach Unterabsatz 2 in Fällen, in denen es nicht um Flüchtlinge im Sinne von Artikel 12 oder deren Familienangehörige geht, auch vor der Gewährung der Familienzusammenführung Anwendung finden. Der Begriff "Integrationsmaßnahmen" erscheint zudem weit genug, um auch "Erfolgspflichten" zu umfassen.

(21) Der Generalanwalt Mengozzi hat demgegenüber vor dem Hintergrund, dass im System der Familienzusammenführungsrichtlinie die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt und die Vorschriften, mit denen sie beschränkt werden kann, eng auszulegen sind, und dass der den Mitgliedstaaten durch die Bestimmungen der Richtlinie zuerkannte Handlungsspielraum nicht in einer Weise genutzt werden darf, die das Ziel der Richtlinie, die Familienzusammenführung zu fördern, und ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde, in seinen Schlussanträgen vom 30. April 2014 in der Rechtssache Dogan (C-138/13, ECLI:EU:C:2014:287, Rdnr. 61) zur zweiten Vorlagefrage folgendes ausgeführt:

(22) [...] dass Artikel 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die die Erteilung eines Visums zum Zweck der Familienzusammenführung an den Ehegatten eines ausländischen Staatsangehörigen, der die Voraussetzungen des Artikel 7 Abs. 1 der Richtlinie erfüllt, von dem Nachweis abhängig machen, dass dieser Ehegatte über Grundkenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügt, ohne dass sie die Möglichkeit der Gewährung von Befreiungen auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des Antrags auf Familienzusammenführung nach Artikel 17 der Richtlinie unter Berücksichtigung der Interessen minderjähriger Kinder sowie aller relevanten Umstände des Einzelfalls vorsehen. Zu diesen gehören insbesondere zum einen der Umstand, dass im Wohnstaat des Ehegatten der Unterricht und das unterstützende Material, die für den Erwerb des erforderlichen Niveaus der Sprachkenntnisse notwendig sind, verfügbar und, insbesondere unter Kostengesichtspunkten, auch zugänglich sind, sowie zum anderen etwaige, auch zeitweilige, Schwierigkeiten, die mit dem Gesundheitszustand oder der persönlichen Situation des Ehegatten zusammenhängen, wie Alter, Analphabetismus, Behinderung und Bildungsgrad.

Mit Rücksicht darauf kann die Antwort auf die Vorlagefrage jedenfalls als offen und damit klärungsbedüftig angesehen werden. [...]