Nach der in Art. 13 ARB 1/80 enthaltenen Stillhalteklausel ist es nicht zulässig, bei einem Nachzug eines Ehegatten zu einem sich ordnungsgemäß im Bundesgebiet aufhaltenden türkischen Arbeitnehmer die Erfüllung des durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) neu eingeführten Erfordernisses einfacher deutscher Sprachkenntnisse zu verlangen.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
1. Die Klägerin kann sich auf die assoziationsrechtliche Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen. Danach dürfen die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.
a) Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 steht neben den unmittelbar anwendbaren Rechten der Art. 6 und 7 ARB 1/80, die türkischen Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen im Unionsrecht wurzelnde Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechte vermitteln. Sie zielt auf die den Mitgliedstaaten verbleibende Kompetenz, die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet und dort die erstmalige Aufnahme einer Beschäftigung zu regeln (vgl. m.w.N. aus der Rspr. des EuGH: BVerwG, Urteil vom 6. November 2014 – 1 C 4.14 – juris Rn. 13).
b) Der sachliche Anwendungsbereich der Stillhalteklausel ist eröffnet. In seiner jüngsten Rechtsprechung hat der Gerichtshof der Europäischen Union bezüglich der in Art. 41 Abs. 1 ZP enthaltenen Stillhalteklausel klargestellt, dass diese nicht nur auf Regelungen anwendbar ist, die unmittelbar die Bedingungen für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch einen türkischen Staatsangehörigen behandeln, sondern auch auf solche, die Rechte von Familienangehörigen auf dem Gebiet der Familienzusammenführung betreffen (Urteil vom 10. Juli 2014 – C-38/13 [Dogan] – InfAuslR 2014, 322 Rn. 36). Denn eine Regelung, die eine Familienzusammenführung erschwert oder unmöglich macht, kann sich negativ auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen auswirken, in einem Mitgliedstaat dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (EuGH, a.a.O., Rn. 35). Da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Art. 41 ZP und Art. 13 ARB 1/80 gleichartig sind und – ungeachtet des unterschiedlichen Wortlauts – dasselbe Ziel verfolgen, ist auch die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 dahin auszulegen, dass mit Blick auf den stammberechtigten türkischen Arbeitnehmer Regelungen über die Familienzusammenführung vom Anwendungsbereich nicht von vornherein ausgeschlossen sind (vgl. m.w.N. aus der Rspr. des EuGH: BVerwG, Urteil vom 6. November 2014 – 1 C 4.14 – juris Rn. 14). Die in der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vertretene Auffassung, dass sich Familienangehörige, die mit dem begehrten Visum nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern den Familiennachzug erstreben, nicht auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen können (Urteil vom 30. März 2010 – 1 C 8.09 – juris Rn. 20), ist somit überholt.
c) Für die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 13 ARB 1/80 ist außerdem erforderlich, dass der Aufenthalt und die Beschäftigung des durch die Regelung Begünstigten ordnungsgemäß sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet der Begriff "ordnungsgemäß", dass der türkische Arbeitnehmer oder sein Familienangehöriger die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats auf dem Gebiet der Einreise und des Aufenthalts beachtet haben muss, so dass er sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Staates befindet (vgl. Urteil vom 7. November 2013 – C-225/12 [Demir] – NVwZ-RR 2014, 115 Rn. 35). In Fällen, in denen es um Vorschriften geht, die die Familienzusammenführung mit einem türkischen Arbeitnehmer betreffen, ist für einen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne der Stillhalteklausel auf die Person des Stamm- berechtigten, des türkischen Arbeitnehmers, abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. November 2014 – 1 C 4.14 – juris Rn. 15). Die Ordnungsgemäßheit des Aufenthalts des Ehemanns der Klägerin, der seit 2005 in Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist, steht außer Frage.
2. Die Einführung des Spracherfordernisses als Nachzugsvoraussetzung bewirkt eine "neue Beschränkung" im Sinne des Art. 13 ARB 1/80, denn die frühere Rechtslage war für die Klägerin günstiger. Art. 13 ARB 1/80 enthält ein Verschlechterungsverbot. Danach dürfen die Mitgliedstaaten keine neuen innerstaatlichen Maßnahmen einführen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen ist, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem betreffenden Mitgliedstaat bestanden (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013, a.a.O., Rn. 33). Maßgeblich für den Vergleich ist vorliegend, da eine günstigere Regelung später nicht eingeführt wurde, die bei Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 am 1. Dezember 1980 (vgl. Art. 16 ARB 1 /80) geltende Rechtslage (vgl. EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 – C-300/09 und C-301/09 [Toprak] – NVwZ 2011, 349 Rn. 49 ff.). Zum damaligen Zeitpunkt – wie auch in der Folgezeit bis zur Einführung des Spracherfordernisses im Jahr 2007 – hatten Ehegatten einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, ohne dass ein Nachweis von Sprachkenntnissen erforderlich war (vgl. zum AuslG 1965: Kanein, Ausländergesetz, 3. Aufl. 1980, § 2 AuslG Nr. 4).
Die Annahme einer "neuen Beschränkung" führt auch nicht dazu, dass türkische Staatsangehörige eine günstigere Behandlung erhalten als Unionsbürger, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. Der Gerichtshof erachtet eine belastende Veränderung der Rechtslage ausnahmsweise dann für zulässig, wenn die Belastung auch für Unionsbürger Geltung beansprucht (zu Art. 13 ARB 1/80: EuGH, Urteil vom 17. September 2009 – C-242/06 [Sahin] – NVwZ 2009, 1551 Rn. 67). Eine andere Auslegung wäre nach Auffassung des Gerichtshofs mit Art. 59 ZP nicht vereinbar, der den Mitgliedstaaten untersagt, türkischen Staatsangehörigen eine günstigere Behandlung zukommen zu lassen als EU-Angehörigen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. Bei Nichtanwendung des Spracherfordernisses liegt jedoch keine gegenüber Unionsbürgern günstigere Behandlung vor. Denn § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG findet gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG keine Anwendung auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) geregelt ist, und eine entsprechende Anwendung ist auch nicht durch § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU (Visumpflicht für Familienangehörige) oder § 11 FreizügG/EU (Anwendung des Aufenthaltsgesetzes) angeordnet.
3. Die mit der Einführung des Spracherfordernisses bewirkte Verschlechterung ist nicht aus Gemeinwohlgründen gerechtfertigt. In der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs wurden die Stillhalteklauseln zu "Beschränkungsverboten mit einer begriffsimmanenten Rechtfertigungsoption" umgebaut (so: Thym, ZAR 2014, 301 <304>). Eine neue Beschränkung der Ausübung der Niederlassungs- bzw. der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist danach verboten, sofern sie nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet ist, die Erreichung des angestrebten legitimen Ziels zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht (vgl. zu Art. 13 ARB: Urteil vom 7. November 2013 – C- 225/12 [Demir] – NVwZ-RR 2014, 115 Rn. 40; zu Art. 41 Abs. 1 ZP: Urteil vom 10. Juli 2014 – C-138/13 – [Dogan] InfAuslR 2014, 322 Rn. 37). Im Anwendungsbereich von Art. 13 ARB 1/80 prüft der Gerichtshof neben den geschriebenen Rechtfertigungsgründen (Art. 14 ARB 1/80) auch ungeschriebene Gemeinwohlgründe, die, wie bei den Grundfreiheiten des Unionsrechts, eine Vielzahl von Gemeinwohlbelangen umfassen können. Diese Übertragung einer unionsrechtlichen Rechtsfigur auf das Assoziationsrecht beruht darauf, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs diejenigen Grundsätze, die nach Unionsrecht für die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen gelten, "soweit wie möglich" als Leitlinien für die Behandlung türkischer Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Recht besitzen, herangezogen werden sollen (vgl. m.w.N. aus der Rspr. des EuGH: BVerwG, Urteil vom 6. November 2014 – 1 C 4.14 – juris Rn. 21). In Bezug auf das Spracherfordernis in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG hat es der Gerichtshof in Anwendung der genannten Grundsätze offen gelassen, ob die mit der gesetzlichen Neuregelung intendierte Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und die Förderung der Integration zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen können. Jedenfalls gehe eine nationale Regelung wie die hier fragliche über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich sei, weil der fehlende Nachweis des Erwerbs hinreichender Sprachkenntnisse automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung führe, ohne dass besondere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt würden (Urteil vom 10. Juli 2014, a.a.O., Rn. 38).
Die Würdigung des Gerichtshofs, dass eine nationale Regelung wie die in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG einen nicht durch Gemeinwohlgründe gerechtfertigten Verstoß gegen die Stillhalteklausel darstellt, ist im vorliegenden Verfahren zu Grunde zu legen. Zwar entfaltet ein Vorabentscheidungsurteil zunächst nur zwischen den Beteiligten des Ausgangsverfahrens unmittelbare Bindungswirkung. Ihm kommt jedoch eine faktische Bindungswirkung auch für andere Verfahren zu, denn Unionsrecht hat letztlich den Inhalt, den ihm der Gerichtshof durch seine Auslegung beimisst (vgl. Middeke in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, 3. Aufl. 2014, § 10 Rn. 104).
Das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Dogan beruht nicht auf einem unzutreffenden Verständnis der deutschen Rechtslage mit der Folge, dass eine erneute Vorlage an den Gerichtshof geboten wäre. Für das Spracherfordernis beim Ehegattennachzug zu Ausländern ist der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 30. März 2010 – 1 C 8.09 – (juris Rn. 29 ff.) zu dem Ergebnis gekommen, dass die gesetzliche Regelung in der Regel zu einem ausgewogenen Interessenausgleich führt, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK entspricht. Zugleich hat er darauf hingewiesen, dass die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall auch durch Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Spracherwerb nach § 16 Abs. 5 AufenthG hergestellt werden kann (Rn. 46). An dieser Rechtsprechung hält der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 4. September 2012 – 10 C 12.12 – ausdrücklich fest (juris Rn. 22). Das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungsrechtliche Wertung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt (Beschluss vom 25. März 2011 - 2 BvR 1413/10 - NVwZ 2011, 870). Es hat dabei im Rahmen der Verhältnismäßigkeit darauf abgestellt, dass die mit dem Erwerb von Sprachkenntnissen typischerweise verbundene Belastung verzögerten häuslichen Zusammenlebens im Bundesgebiet sich zumeist in einem überschaubaren Zeitraum werde überwinden lassen, wofür insbesondere spreche, dass an die nachzuweisenden Sprachkenntnisse nur geringe Anforderungen gestellt würden. Hinzu komme, dass dem im Bundesgebiet lebenden ausländischen Ehepartner grundsätzlich Anstrengungen zumutbar seien, die familiäre Einheit durch Besuche oder nötigenfalls zur Gänze im Ausland herzustellen. In Fällen des Ehegattennachzugs zu deutschen Staatsangehörigen hat das Bundesverwaltungsgericht erkannt, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beim Nachzug zum deutschen Ehepartner Einschränkungen gebiete und von dem Erfordernis einfacher deutscher Sprachkenntnisse vor der Einreise abzusehen sei, wenn Bemühungen um den Spracherwerb im Einzelfall nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich seien (Urteil vom 4. September 2012 – 10 C 12.12 – juris Rn. 27 f.). Es hat darauf verwiesen, dass sich die Voraussetzungen für den Ehegattennachzug zu einem Deutschen von den Nachzugsvoraussetzungen zu einem Ausländer unterscheiden, weil das Grundrecht des Art. 11 GG ihm – anders als einem Ausländer – das Recht zum Aufenthalt in Deutschland gewähre und damit deutlich das Gewicht der privaten Interessen am Ehegattennachzug zur Führung der ehelichen Gemeinschaft im Bundesgebiet erhöhe. Einem deutschen Staatsangehörigen könne nur bei gewichtigen öffentlichen Belangen zugemutet werden, die Ehe für einige Zeit gar nicht oder nur im Ausland führen zu können. Sie dauerhaft im Ausland führen zu müssen, sei für ihn in jedem Fall unangemessen und unzumutbar (Rn. 26). Methodisch hat das Bundesverwaltungsgericht die verfassungskonforme Auslegung auf § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG gestützt, wonach beim Ehegattennachzug zu Deutschen § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nur "entsprechend" anzuwenden ist. Diese Rechtsprechung kann – entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung – nicht auf den Ehegattennachzug zu assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen übertragen werden, denn insoweit findet weder Art. 11 GG noch § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG Anwendung.
Die Verhältnismäßigkeit der Regelung betreffend das Spracherfordernis ist auch nicht wegen einer nachträglichen Änderung der nationalen Rechtslage abweichend von den Ausführungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Dogan zu bewerten. Allerdings wendet die Beklagte nunmehr bei der Erteilung von Visa zum Ehegattennachzug den Erlass des Auswärtigen Amtes vom 4. August 2014 an, der im Wesentlichen Folgendes vorsieht:
"Die Auslandsvertretungen werden angewiesen, bei Anträgen auf Visa zum Ehegattennachzug zu assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen den Nachweis einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache (A1 GER) oder den Nachweis von härtefallbegründenden Umständen zu verlangen. Liegt ein Härtefall vor, so ist das Ehegattennachzugsvisum auch ohne den Nachweis einfacher Deutschkenntnisse zu erteilen. Ein Härtefall ist entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 04.09.2012 – BVerwG 10 C 12.12 – zum Ehegattennachzug zu Deutschen) dann gegeben, wenn es dem ausländischen Ehegatten nicht zugemutet werden kann, vor der Einreise Bemühungen zum Erwerb einfacher deutscher Sprachkenntnisse zu unternehmen, oder es ihm trotz ernsthafter Bemühungen von einem Jahr Dauer nicht gelungen ist, das erforderliche Sprachniveau zu erreichen."
Eine Änderung der Rechtslage ist damit nicht eingetreten. Zwar ist für den im Rahmen von Stillhalteklauseln anzustellenden Vergleich die jeweils maßgebliche Rechtslage nicht nur anhand von Gesetzen und Rechtsprechung, sondern auch anhand der jeweiligen Verwaltungspraxis zu ermitteln. Dies gilt jedoch nur, soweit die Verwaltungspraxis mit der Rechtslage in Einklang steht (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 6.08 – juris Rn. 19). Dies ist hier nicht der Fall. Der Erlass des Auswärtigen Amtes vom 4. August 2014 entspricht, soweit es den Ehegattennachzug zu assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen betrifft, nicht der geltenden Gesetzeslage. Diese sieht – wie bereits ausgeführt – eine allgemeine Härtefallregelung nicht vor. Der Erlass ist auch nicht geeignet, die beschriebene Rechtslage zu ändern. Hierfür bedürfte es eines Gesetzes.
4. Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung besteht keine Möglichkeit, § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG "unionsrechtskonform" dahingehend auszulegen, dass das Spracherfordernis nicht strikt gilt, sondern eine im Erlass des Auswärtigen Amtes vom 4. August 2014 vorgesehene Härtefallprüfung vorzunehmen ist. Eine solche Vorgabe lässt sich der hier anwendbaren Stillhalteklausel nicht entnehmen.
Nach dem Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung des innerstaatlichen Rechts haben die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Gemeinschaftsrecht verfolgten Ziel übereinstimmt (vgl. von Bogdandy/Schill in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand: September 2014, Art. 4 EUV Rn. 99). Seinen primären Anwendungsbereich findet der Grundsatz in den durch EU-Richtlinien harmonisierten Rechtsbereichen (vgl. von Bogdandy/Schill, a.a.O.).
Im hier zu entscheidenden Fall geht es indessen nicht um die Berücksichtigung der inhaltlichen Vorgaben einer EU-Richtlinie, sondern um die Folgen eines Verstoßes gegen das in Art. 13 ARB 1/80, einem völkerrechtlichen Vertrag, enthaltene Verschlechterungsverbot. Anders als eine EU-Richtlinie, die Maßstab für eine unionsrechtskonforme Auslegung sein kann, hat eine Stillhalteklausel keinen materiellen Regelungsgehalt. Ihr fehlt somit die "Maßstabswirkung", die Grundlage einer unionsrechtskonformen Auslegung ist (vgl. Kahl in: Callies/Ruffert, EUV / AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 4 EUV Rn. 91). Stillhalteklauseln schaffen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht aus sich heraus Rechte, sondern verbieten den Mitgliedstaaten ab einem bestimmten Zeitpunkt die Einführung jeder neuen restriktiven Maßnahme (vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 24. September 2013 – C-221/11 [Demirkan] – NVwZ 2013, 1465 Rn. 58). Damit haben Stillhalteklauseln nicht die Wirkung einer materiell-rechtlichen Vorschrift, die das maßgebliche Recht unanwendbar macht und an dessen Stelle tritt, sondern stellen quasi eine verfahrensrechtliche Vorschrift dar, die in zeiticher Hinsicht festlegt, nach welchen Bestimmungen eines Mitgliedstaates die Situation eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zu beurteilen ist (vgl. Hailbronner, NVwZ 2009, 760 <761>; Dienelt, a.a.O., Art. 13 ARB 1/80 Rn. 14). Dementsprechend ist es in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass sich ein türkischer Staatsangehöriger gegenüber den nationalen Gerichten unmittelbar auf die ihm nach Art. 13 ARB 1/80 bzw. Art. 41 Abs. 1 ZP zustehenden Rechte berufen und geltend machen kann, dass eine dem Verschlechterungsverbot entgegenstehende nationale Vorschrift auf ihn nicht anwendbar ist, es vielmehr bei der Anwendung des früheren, günstigeren Rechts bleibt (vgl. z.B. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26. März 2014 – OVG 11 B 10.14 – juris Rn. 20 f.). [...]