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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 26.02.2015 - 3 B 83/15 - asyl.net: M22677
https://www.asyl.net/rsdb/M22677
Leitsatz:

Eine allgemeine, undatierte, nicht unterschriebene und nicht auf den Einzelfall bezogene Rücknahmeerklärung genügt nicht den Anforderungen an eine Zusicherung, wie sie in der Tarakhel-Entscheidung des EuGH gefordert wird.

(Leitsatz des Einsenders)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Zusicherung, Tarakhel, Italien, Dublinverfahren, Garantieerklärung, Kinder, Kleinkinder, Kleinstkinder, Rückübernahmeersuchen, Rücknahmeerklärung
Normen: AsylVfG § 34a, AsylVfG § 27a,
Auszüge:

[...]

Der am 13. Februar 2015 bei Gericht eingegangene Antrag der Antragstellerinnen, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage (3 A 82/15) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 04. Februar 2015 anzuordnen, ist zulässig und begründet.

Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsanordnung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem gesetzlich angeordneten Vollzug der Abschiebungsandrohung überwiegt. Hier überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragsstellerinnen, denn nach der im vorliegenden Verfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebung der Antragstellerinnen nach Italien.

Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung auf §§ 27a und 34a AsylVfG. Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von EU-Recht oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Abschiebung an, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahren zuständigen Staat abgeschoben werden soll.

Vorliegend zieht die Antragsgegnerin in dem Bescheid des Bundesamtes vom 04. Februar 2015 zur Begründung ihrer Entscheidung zur Zuständigkeit Italiens Artikel 12 Abs. 4 bzw. Artikel 22 Abs. 7 Dublin III-Verordnung heran. Vorliegend war die Antragstellerin zu 1 (und mit ihr wohl auch die Antragstellerinnen zu 2 und 3) im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis Italiens, die bis zum 06. Januar 2014 gültig war (Bl. 75 BA A zu 3 A 82/15). Damit dürfte in der Tat gemäß Artikel 12 Absätze 1 und 4 Dublin III-VO Italien zuständig sein, denn bei ihrer Zugfahrt von Bologna nach München haben die Antragstellerinnen das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten nicht verlassen.

Auf eine entsprechende Anfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. September 2014 hinsichtlich einer Rückübernahme der Antragstellerinnen aufgrund der vorgenannten Vorschriften hat die Republik Italien nicht binnen zwei Monaten geantwortet. Damit ist gemäß Artikel 22 Abs. 7 Dublin III-VO grundsätzlich davon auszugehen, dass dem Aufnahmeersuchen Deutschlands seitens Italiens stattgegeben ist.

Die angefochtene Abschiebungsanordnung erweist sich allerdings deshalb als voraussichtlich rechtswidrig, weil die Antragsgegnerin die konkreten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 17.09.2014 - 2 BvR 939/14 -, juris) und insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Entscheidung vom 04.11.2014 - Tarakhel vs. Schweiz - Az.: 29217/12 [...]) trotz ausdrücklicher Bezeichnung dieser beiden Entscheidungen im angefochtenen Bescheid nicht einhält. Nach diesen Vorgaben obliegt es den deutschen Behörden, konkrete Zusicherungen Italiens einzuholen, dass die Antragsstellerinnen in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen werden, die dem Alter der Kinder angemessen sind, und dass sie als Familie zusammenbleiben können.

Jedenfalls genügt die auf Blatt 172 der Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakte A zu 3 A 82/15) eingeheftete, nicht in der Gerichtssprache Deutsch, sondern auf Englisch gehaltene Erklärung (wohl) des italienischen Innenministeriums allein von ihrem Erscheinungsbild bereits nicht diesen Anforderungen. Es spricht einiges dafür, dass es sich um gleichsam ein Blankoformular handelt, welches den deutschen Behörden seitens Italiens zur Verfügung gestellt worden ist, um es bei Bedarf in Akten zu heften. Die Antragstellerinnen weisen zutreffend darauf hin, dass diese vorgebliche Zusicherung weder datiert noch unterschrieben oder sonst auch nur ansatzweise auf den hier zu betrachtenden Einzelfall individualisiert worden ist. Vielmehr lässt das Erscheinungsbild dieses Abdrucks vermuten, dass Italien sich in Reaktion auf die Entscheidung des EGMR (Tarakhel gegen die Schweiz, Az.: 29217/12, a.a.O.) veranlasst gesehen hat, einen Verfahrensmodus zu beschreiben, nach welchem Abschiebungsanordnungen im Sinne der vorgenannten Gerichtsentscheidung besonders schutzbedürftiger Betroffener verfahren werden soll. Entsprechend nimmt die Antragsgegnerin auch auf Seite 2 und 15 des.angefochtenen Bescheides Bezug und hält allerdings die Anforderungen des EGMR (a.a.O.) und auch die des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 17.09.2014 - 2 BvR 939/14 -, juris) durch ihre Vorgehensweise zu Unrecht für erfüllt. Weder ist ersichtlich, ob die "allgemein verbindliche Mitteilung des zuständigen italienischen Ministeriums" tatsächlich aus dem "Februar 2015" stammt, noch handelt es sich vorliegend auch nur ansatzweise um eine individuell auf die Antragstellerinnen im konkreten Verfahren bezogene Zusicherung seitens Italiens. Dem gegenüber hat der EGMR in seiner Entscheidung vom 04. November 2014 (vgl. a.a.O., Rn. 121) ausdrücklich bemängelt, dass im dort verhandelten Fall die italienische Regierung in ihren Stellungnahmen keine näheren Details zu den spezifischen Bedingungen, unter denen die Behörden die Beschwerdeführer übernehmen würden, vorgelegt habe. Auch reiche es nicht aus, wenn italienische Behörden darüber informiert hätten, dass die Beschwerdeführer im Fall ihrer Abschiebung nach Italien in einer der Einrichtungen in Bologna untergebracht werden würden, die aus dem ERF finanziert würden. Dabei vermisste der EGMR in dieser Entscheidung (a.a.O.) hinreichend detaillierte und verlässliche Informationen betreffend die konkrete Einrichtung, die materiellen Aufnahmebedingungen und die Wahrung der Familieneinheit (zitiert nach der inoffiziellen Übersetzung der Tarakhel-Entscheidung, abrufbar unter www.asyl.net; überprüft anhand des englischen Originaltextes der Entscheidung vom 04.11.2014, a.a.O.). Auch aus dem Beschluss der Bundesverfassungsgerichts vom 17. September 2014 (a.a.O.) ist abzuleiten, dass vor Erlass der Abschiebungsanordnung die konkreten Aufnahme-, Unterbringungs- und ggf. Betreuungsbedingungen individuell für die betroffenen Antragsteller feststehen müssen.

Diesen Anforderungen wird die vorliegend getroffene Verfahrensabsprache mit Italien nicht gerecht. Weder ist ersichtlich, dass sich die italienischen Behörden überhaupt bereits mit dem Rückübernahmeersuchen betreffend die Antragstellerinnen der Sache nach beschäftigt hätten, noch gibt es überhaupt annähernd konkrete Informationen seitens Italiens dazu, welche individuelle Unterbringung für die Antragstellerinnen vorgesehen ist. Nicht ausreichend ist in diesem Zusammenhang, dass sich das Bundesamt erst im Rahmen der Durchführung der Abschiebungsanordnung mit den italienischen Behörden in Verbindung setzen will, um dann (möglicherweise) individuelle Garantien und Informationen betreffend die Antragstellerinnen zu erhalten. Bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung müssen die zitierten Voraussetzungen hinreichend detaillierter und verlässlicher Garantieerklärungen individuell auf die jeweils betroffenen Personen bezogen vorliegen. Es ist nicht ersichtlich, wie eine "Liaisonbeamtin" in jedem Einzelfall flächendeckend für ganz Italien hinreichend sicherstellen will, dass die Einhaltung der Anforderungen (erst) im Rahmen der Durchführung jeder Abschiebung unter entsprechendem Zeitdruck nicht nur individuell zugesichert, sondern konkret betreffend jede Person auch tatsächlich umgesetzt wird.

Soweit die Antragsgegnerin hinsichtlich der Durchführung sogenannter Dublin-Verfahren in Bezug auf Italien in anderen Verfahren eine allgemeine Information italienischer Behörden vorgelegt hat, man verfüge in Rom (Projekt A.S.T.R.A.) und Venedig (Projekt G.A.LA.) über jeweils 50 Plätze sowohl für vulnerable als auch "ordinarie case" (?) Fälle, genügt dieser allgemeine Hinweis, dass es solche Projekte gibt, nicht ansatzweise den Anforderungen an eine konkret und individuell auf die jeweiligen Betroffenen bezogene Zusicherung, dass gerade sie dort auch unter Wahrung der Familieneinheit tatsächlich unterkommen. Im Übrigen erscheint es angesichts der gerichtsbekannten Vielzahl entsprechender Fälle als äußerst unwahrscheinlich, dass die insgesamt 100 Plätze auch nur ansatzweise ausreichten.

Soweit die Antragstellerinnen im gerichtlichen Verfahren noch vortragen, aufgrund einer möglichen Traumatisierung der Antragstellerin zu 1, auch aufgrund von Erlebnissen und Ereignissen in Italien, komme eine Abschiebung dorthin ebenso wenig wie nach Nigeria in Betracht, kann für diese Eilverfahren offen bleiben, ob daraus zusätzlich ein inlandsbezogenes Äbschiebungshindernis, auf dessen Vorliegen die Antragsgegnerin zusätzlich zu reagieren hätte, besteht. [...]