VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23.10.2014 - 5a K 1630/14.A - asyl.net: M22686
https://www.asyl.net/rsdb/M22686
Leitsatz:

1. Lehnt das Bundesamt die Durchführung eines Asylverfahrens in rechtswidriger Weise ab, so hat das gegen diese Entscheidung angerufene Gericht im Umfang der gestellten Anträge die Sache spruchreif zu machen und selbst darüber zu entscheiden, ob dem Kläger Verfolgungsschutz zu gewähren ist.

2. Dient ein Zuständigkeitstatsbestand der Dublin II-VO dem Schutz eines bestimmten Personenkreises - hier die Familienangehörigen - und ist damit subjektiv-rechtlich ausgestaltet, muss sich ein Asylbewerber, jedenfalls dann, wenn die Nichtbeachtung der einschlägigen Regelung eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung für ihn zur Folge hätte, auf die Beachtung der Zuständigkeitsregelung durch einen Mitgliedstaat berufen dürfen.

3.Die Ernährung für eine Familie mit drei minderjährigen Kindern, wovon ein Kind noch ein Kleinkind ist, kann in Kabul durch Aushilfsjobs derzeit nicht sichergestellt werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, subjektives Recht, Afghanistan, Kabul, Abschiebungsverbot, Familienangehörige, Rückkehr, Durchentscheiden, Spruchreife, minderjährig, allgemeine Gefahr, Existenzminimum,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, VO 343/2003 Art. 8, VO 343/2003 Art. 6 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der Bescheid des Bundesamtes vom 20. März 2014 ist rechtswidrig.

Nach § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Verfahrens zuständig ist. Die Bundesrepublik Deutschland war bereits im Zeitpunkt der Antragstellung für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger zuständig. Nach Art. 8 der Verordnung Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II-VO), obliegt einem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags desjenigen, der in diesem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen hat, über dessen Asylantrag noch keine erste Sachentscheidung getroffen wurde. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Kinder der Kläger sind am 12. August 2012 in die Bundesrepublik Deutschland als unbegleitete Minderjährige eingereist und haben bereits am 10. September 2012 einen Asylantrag gestellt. Zu diesem Zeitpunkt war, aufgrund der Geschehnisse während der Überreise nach Italien und der damit verbundenen Trennung von den Eltern, noch nicht absehbar, ob die Kläger überhaupt in die Bundesrepublik Deutschland einreisen werden bzw. wann mit einer Einreise zu rechnen wäre. Damit war die Bundesrepublik Deutschland bereits im Zeitpunkt der Antragstellung zur Durchführung der Asylverfahren der Kinder der Kläger nach Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO verpflichtet, wonach der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, zuständig ist, sofern kein Familienangehöriger anwesend ist. Da zum Zeitpunkt der Antragstellung der Kläger noch keine erste Sachentscheidung über die Anträge der Kinder getroffen wurde, oblag der Bundesrepublik Deutschland die Prüfung der Asylanträge der Kläger.

Die Verpflichtung zur Durchführung des Verfahrens ist auch nicht nach Eintreffen der Kläger in der Bundesrepublik etwa vier Wochen später aufgrund der Regelung des Art. 14 b) Dublin II-VO nachträglich entfallen. Danach obliegt für den Fall, dass mehrere Mitglieder einer Familie in demselben Mitgliedstaat gleichzeitig oder in so großer zeitlicher Nähe einen Asylantrag stellen, dass die Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemeinsam durchgeführt werden können und die Anwendung der Kriterien der Verordnung ihre Trennung zur Folge haben könnte, dem Mitgliedstaat, der nach den Kriterien für die Prüfung des von dem ältesten Familienmitglieds eingereichten Asylantrags zuständig ist. Unabhängig davon, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 14 Dublin II-VO gegeben sind, legt Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO fest, dass die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung finden. Damit besteht zugunsten der Regelung des Art. 8 Dublin II-VO ein Anwendungsvorrang, der den besonderen Schutz von Familienangehörigen, unter die nach der Begriffsbestimmung in Art. 2 i) Dublin II-VO grundsätzlich nur Ehegatten und minderjährige Kinder fallen, gewährleistet.

Die Kläger können sich auch auf die Verletzung der Zuständigkeitsregelung durch die Bundesrepublik Deutschland berufen.

Zwar begründet die Dublin II-VO grundsätzlich keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Bundesrepublik Deutschland. Denn die Dublin II-VO sieht ein nach objektiven Kriterien ausgerichtetes Verfahren der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten vor. Sie ist nicht darauf ausgerichtet, Ansprüche von Asylbewerbern gegen einen Mitgliedstaat auf Durchführung des Asylverfahrens durch ihn zu begründen (vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteile vom 14. November 2013 – C 4/11 – und vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 -; jeweils zitiert nach juris).

Vor dem Hintergrund des dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zugrundeliegenden Prinzips des gegenseitigen Vertrauens kann daher ein Asylbewerber in einer Situation, in der ein Mitgliedstaat einem Übernahmeersuchen zustimmt, gegen die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat nur mit dem Argument entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 -, Rn. 60; zitiert nach juris).

Zu berücksichtigen ist hierbei allerdings, dass die der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zugrundeliegende Frage auf der Konstellation beruht, dass nach den Vorschriften der Dublin II-VO ursprünglich ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Der im Ermessen der Behörde stehenden Entscheidung über der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO, wonach ein Mitgliedstaat einen Asylantrag prüfen kann, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist, von dem Asylbewerber nur in dem genannten Ausnahmefall des Vorliegens systemischer Mängel in dem aufnehmenden Mitgliedstaat entgegen getreten werden.

Nicht anwendbar ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs allerdings dann, wenn es – wie hier – nicht um die Frage eines Selbsteintritts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO geht, sondern der Mitgliedstaat aufgrund der Regelung des Art. 8 Dublin II-VO bereits von Anfang an für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig war. In dieser Situation, in der ein Zuständigkeitstatbestand der Dublin II-VO dem Schutz eines bestimmten Personenkreises – hier die Familienangehörigen – dient und damit subjektiv-rechtlich ausgestaltet ist, muss sich ein Asylbewerber, jedenfalls dann, wenn die Nichtbeachtung der einschlägigen Regelung eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung für ihn zur Folge hätte, auf die Beachtung der Zuständigkeitsregelung durch einen Mitgliedstaat berufen dürfen (vgl. jeweils Bezug nehmend auf Art. 7 Dublin II-VO als subjektiv-rechtlicher Zuständigkeitstatbestand: VG Hannover, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 13 B 12064/14 -; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 9. Oktober 2014 – 9a L 1508/14.A -; st. Rspr des VG Düsseldorf, zuletzt Urteil vom 8. Oktober 2014 – 11 K 900/14.A -; jeweils zitiert nach juris).

Die Begründung subjektiver Rechte im Falle der Verkennung der zwingenden Zuständigkeit nach Art. 8 der Dublin II-VO durch einen Mitgliedstaat ist vor allem aufgrund des hochrangigen Grundrechtes des Schutzes der Ehe und Familie nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK, der auch in dem 6. Erwägungsgrund der Dublin II-VO Ausdruck gefunden hat, nachdem die Einheit der Familie gewahrt werden soll, geboten.

Der besonderen Bedeutung des Grundrechtes nach Art. 6 GG hinsichtlich der Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls in Verfahren nach der Dublin II-Verordnung hat jüngst das Bundesverfassungsgericht erneut uneingeschränkten Geltungsanspruch zugesprochen (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 732/14 -; zitiert nach juris).

Da die Bundesrepublik Deutschland zur Durchführung der Asylverfahren der Kläger verpflichtet war, kommt es auf die Frage, ob in Italien systemische Mängel hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für eine Familie mit drei minderjährigen Kindern bestehen, mit der Folge, dass die Kläger im Falle der Bejahung solcher Mängel ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO beanspruchen können, nicht mehr entscheidungserheblich an.

Da die Voraussetzungen des § 27a AsylVfG nicht gegeben sind, ist auch die darauf gestützte Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG rechtswidrig.

Die Kläger haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG.

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Insoweit muss es sich um Gefahren handeln, die den einzelnen Ausländer in konkreter und individualisierbarer Weise betreffen. Erfasst werden dabei nur zielstaatsbezogene Gefahren. Diese müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.

Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, "allgemein" ausgesetzt ist, sind demgegenüber nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei Abschiebestopp-Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Insoweit entfaltet § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG grundsätzlich eine gewisse Sperrwirkung. Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG greift aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nur dann ausnahmsweise nicht, wenn der Ausländer im Zielstaat landesweit einer extrem zugespitzten allgemeinen Gefahr dergestalt ausgesetzt wäre, dass er "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert" würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, vom 29. Juni 2010 - 10 C 10.09 -, und vom 29. September 2011 - 10 C 24.10 -; zuletzt OVG NRW, Beschluss vom 10. September 2014 – 13 A 984/14.A -; jeweils zitiert nach juris).

Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Januar 2013 - 13 A 2635/12.A - und - 13 A 2673/12.A - sowie vom 13. Februar 2013 - 13 A 1524/12.A -; jeweils zitiert nach juris).

Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BayVGH, Urteile vom 8. November 2012 - 13a B 11.30465 - und - 13a B 11.30391 -, sowie OVG NRW, Urteil vom 26. August 2014 – 13 A 2998/11.A -; jeweils zitiert nach juris).

Dies zugrundegelegt geht die Kammer auf der Grundlage der Erkenntnisquellen, die ihr zur Verfügung stehen, davon aus, dass trotz der nach wie vor teilweise äußerst schlechten allgemeinen Versorgungslage in Kabul – als der im vorliegenden Fall einzig in Betracht kommenden Möglichkeit für einen Aufenthalt der Kläger in Afghanistan - nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass jeder Rückkehrer aus Europa den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Kabul erleiden müsste. Dies entspricht auch der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteile vom 21. März 2012 - 8 A 11048/10 - und - 8 A 11050/10 -; BayVGH, Urteile vom 30. Januar 2014 – 13a B 13.30279 - und vom 3. Februar 2011 - 13a B 10.30394 -; OVG NRW, Urteile vom 26. August 2014 – 13 A 2998/11.A - und vom 19. Juni 2008 - 20 A 4676/06.A - sowie Beschluss vom 26. Oktober 2010 - 20 A 964/10.A -; OVG Schleswig, Urteil vom 10. Dezember 2008 - 2 LB 23/08 -; OVG Sachsen, Urteil vom 10. Oktober 2013 – A 1 A 474/09 -; Hessischer VGH, Urteil vom 30. Januar 2014 – 8 A 119/12.A -; jeweils zitiert nach juris).

Zwar herrscht nach den vorliegenden Erkenntnisquellen in Kabul ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum und ein Zugang zu sauberem Wasser sowie bezahlbarem Strom ist nicht überall gewährleistet. Infolgedessen sehen sich zahllose Menschen gezwungen, in prekären Unterkünften wie Lehmhütten, Zelten oder alten beschädigten Gebäuden zu hausen. Bei alledem ist die Kriminalität und Gefahr, Opfer von Überfällen zu werden, hoch. Soziale Sicherungssysteme bestehen nicht und die allgemeine medizinische Versorgung ist schlecht. Andererseits hat sich in vielen Stadtteilen Kabuls, zumal im Stadtzentrum, die Lage seit 2009 – etwa mit Blick auf die Stromversorgung, die Eröffnung von Geschäften und die Etablierung einer Müllabfuhr und eines Mindestmaßes an Ordnung überhaupt – durchaus verbessert (vgl. etwa Yoshimura, Sicherheitslage in Afghanistan und humanitäre Lage in Kabul, ASYLMAGAZIN 12/2011, S. 406, 408 ff., mit weiteren Nachw.; s. auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -, mit Hinweis auf u.a. auf Kermani, Die Zeit vom 5. Januar 2012, 11 ff.).

Erkenntnisquellen, die den Tod von Rückkehrern aufgrund schlechter humanitärer Bedingungen in Kabul dokumentieren, liegen nicht vor (ebenso UNHCR, Gutachten an OVG Rheinland-Pfalz vom 11. November 2011, S. 10 f.).

Auch der Bericht von amnesty international zur Lage der Binnenflüchtlinge aus Februar 2012, "Die Flucht vor dem Krieg führt ins Elend – Die Not der Binnenflüchtlinge in Afghanistan", zit. nach ACCORD, Anfragebeantwortung vom 1. Juni 2012 zur Situation von Minderjährigen ohne familiäre Anknüpfungspunkte bei Rückkehr, enthält keine Hinweise darauf, dass praktisch jeder mittellose Rückkehrer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod durch Verhungern oder Erfrieren mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeliefert werden würde. Zwar sind gemäß der Einschätzung von amnesty international die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern von Kabul aufgrund des Mangels an Wohnungen, Lebensmitteln und Heizmaterial für Familien im Allgemeinen und kleine Kinder im Besonderen humanitär kritisch. Reguläre Arbeitsangebote für die Menschen in diesen Slums seien rar, viele Männer und Jungen könnten aber als Lastenträger arbeiten und damit 600 bis 750 Afghanis (13 bis 16 US-Dollar) pro Woche verdienen (vgl. hierzu auch BayVGH, Beschluss vom 26. Oktober 2012 - 13a ZB 12.30108 -).

Aktuellste Erkenntnisse sprechen schließlich nicht für eine grundlegende Verschlechterung der Sicherheitslage in Kabul. Trotz einer Reihe von Selbstmordanschlägen und einer steigenden Kriminalitätsrate ist Kabul sicherer als andere Orte in Afghanistan. Auch ist nicht davon auszugehen, dass sich die humanitäre Lage in Kabul durchgreifend verändert hat (vgl. OVG NRW, Urteil vom 26. August 2014 – 13 A 2998/11.A -, mit Verweis auf Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Sicherheit in Kabul, vom 22. Juli 2014, S. 5 ff; siehe auch: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan, Stand: Februar 2014, vom 31. März 2014, S. 19; ACCORD, Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, ecoi.net-Themendossier (letzte Aktualisierung: 3. Oktober 2014), abrufbar unter: www.ecoi.net news/188769::afghanistan/101.allgemeine-sicherheitslage-in-afghanistan-chronologie-fuer-kabul.htm).

Bei alledem ist und bleibt das ökonomische Überleben in Afghanistan auch und gerade von der familiären Unterstützung abhängig. Die Rückkehrsituation, die ein Rückkehrer in Kabul vorfindet, wird daher auch davon mitbestimmt, ob er sich auf familiäre oder sonstige verwandtschaftliche Strukturen verlassen kann, oder ob er auf sich allein gestellt ist. Je stärker noch die soziale Verwurzelung des Rückkehrers oder je besser seine Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen ist, desto leichter und besser kann er sich in die jetzige Situation in Afghanistan wieder eingliedern und dort jedenfalls ein Überleben sichern (vgl. VG München, Urteil vom 27. August 2013 – M 22 K 10.31272 -; VG Augsburg, Urteil vom 23. Januar 2013 – Au 6 K 12.30234 -; VG Würzburg, Urteil vom 26. September 2012 – W 2 K 11.30396; jeweils zitiert nach juris).

Unter Berücksichtigung all dessen geht die Kammer in der Gesamtschau der aktuellen Auskünfte davon aus, dass vor allem für alleinstehende, aus dem europäischen Ausland zurückkehrende und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen in Kabul – mitunter auch ohne familiären Rückhalt – die Möglichkeit gegeben ist, als Tagelöhner wenigstens das Überleben zu sichern (vgl. BayVGH, Urteile vom 30. Januar 2014 – 13a B 13.30279 – und vom 8. November 2012 - 13a B 11.30391 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. März 2012 - 8 A 11050/10 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -; OVG NRW, Urteil vom 26. August 2014 -13 A 2998/11.A – und Beschluss vom 26. Oktober 2010 - 20 A 964/10.A -; OVG Schleswig, Urteil vom 10. Dezember 2008 - 2 LB 23/08 -).

Eine extreme Gefahrenlage in Kabul kann sich jedoch für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben (vgl. etwa aus der Rechtsprechung des VG Augsburg: Urteile vom 23. Januar 2013 - Au 6 K 12.30234 - (Rückkehrgefahren wegen langjährigen Aufenthalts im Iran und Schussverletzung); vom 23. Januar 2013 - Au 6 K 12.30233 - (jugendliches Alter; gesamtes Leben im Iran verbracht); vom 23. Januar 2013 - Au 6 K 12.30232 - (Rückkehrgefahren für junge Frau); vom 9. Januar 2013 - Au 6 K 12.30127 - (Rückkehrgefahren bei Rückkehr eines Minderjährigen nach Kabul); vom 26. Oktober 2012 - Au 6 K 11.30425 - (keine eigenständige Sicherung des Existenzminimums für Minderjährigen), vom 11. Oktober 2012 - Au 6 K 12.30100 - (18-jährig, in schlechter psychischen Verfassung und ohne Erfahrungen im Berufsleben), vom 10. Oktober 2012 - Au 6 K 11.30359 - (alleinstehende, ältere Frau); vom 13. März 2012 - Au 6 K 11.30402 - (Rückkehr angesichts des Alters, 63 und 59 Jahre, und des Gesundheitszustandes nicht zumutbar), vom 11. Januar 2012 - Au 6 K 11.30309 - (vierköpfige Familie mit zwei Kindern im Alter von zwölf und vierzehn Jahren), vom 24. November 2011 - Au 6 K 11.30222 - (Familienverband mit vier kleinen Kindern) und vom 16. Juni 2011 - Au 6 K 11.30153 - (Familie mit zwei Kindern)).

Es ist zudem zu beachten, dass Familienangehörige wegen des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 GG nur gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Ehepartner nach Afghanistan zurückkehren können. Daher sind bei der Beantwortung der Frage, ob das Existenzminimum am Zufluchtsort gesichert sein wird, alle Familienmitglieder gemeinsam in den Blick zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 -; VG Augsburg, Urteil vom 24. Mai 2012 – Au 6 K 11.30369 -; jeweils zitiert nach juris).

Dies zugrundegelegt, ist das Gericht davon überzeugt, dass es der Familie nicht gelingen wird, ihr Existenzminimum in Kabul zu sichern. Die Ernährung für eine Familie mit drei minderjährigen Kindern, wovon ein Kind noch ein Kleinkind ist, kann in Kabul durch Aushilfsjobs jedenfalls nicht sichergestellt werden (vgl. Lutze, Gutachten an das OVG Rheinland Pfalz, 8. Juni 2011, S. 3 und 6 ff.).

Erschwert wird die Situation der Kläger dadurch, dass für sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Möglichkeit bestehen wird, Rückhalt in der Familie zu finden. Insofern sahen sich die Kläger gerade aufgrund der erheblichen Auseinandersetzungen mit der Familie des Klägers zu 1) dazu gezwungen, Afghanistan zu verlassen. Unterstützung können die Kläger schließlich auch nicht von der Familie der Klägerin zu 2) erwarten, da diese bereits die Ehe der Kläger nicht akzeptierte. Hinzu kommt, dass die Kläger im Jahr 2013 erneut Eltern geworden sind und gerade hinsichtlich des Kleinkindes von einer bedrohlichen Gesundheits- und Versorgungslage mit der Folge einer extremen Gefahr auszugehen ist (vgl. zuletzt VG Köln, Urteil vom 20. Mai 2014 – 14 K 6792/12.A -; zitiert nach juris; hinsichtlich der hohen Sterberate der Säuglinge und Unter-Fünfjährigen vgl. Kooperation Asylwesen Deutschland, Österreich, Schweiz, Factsheet Afghanistan vom 9. Dezember 2013, S. 53). [...]