VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 23.02.2015 - 8 A 353/13 - asyl.net: M22705
https://www.asyl.net/rsdb/M22705
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen eingeschränkter körperlicher und intellektueller Leistungsfähigkeit (zumindest mitverursacht durch Depressionen), die eine Besorgung täglicher Angelegenheiten sowie Sicherstellung notwendiger medizinischer Behandlung und Medikation vielfältiger und erheblicher Leiden im Kosovo unmöglich macht.

Schlagwörter: Kosovo, Roma, erhebliche individuelle Gefahr, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Depression, Leistungsfähigkeit, medizinische Versorgung, Medikamente,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben allerdings einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ist insoweit auf Null reduziert und die Beklagte ist verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist. Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann. Ein Ausländer kann schon denn auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht. Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 a.a.O. und Urt. v. 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24).

Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997, BVerwGE 105, 383; Urt. v. 27.04.1998, NVwZ 1998, 973 und Urt. v. 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 a.a.O. und vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - Juris). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.07.1999 a.a.O.). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschl. v. 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urt. v. 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51). An die Qualität und Dichte der Gesundheitsversorgung im Abschiebungszielland einschließlich Kostenbeteiligung des Betroffenen können allerdings keine der hiesigen Gesundheitsversorgung entsprechenden Anforderungen gestellt werden (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 06.09.2004, AuAS 2005, 31).

In Anwendung dieser Grundsätze ist der Einzelrichter bei der vorzunehmenden qualifizierenden und bewertenden Betrachtungsweise zu der Überzeugung gelangt, dass den Klägern zu 1) und 2) bei einer Rückkehr nach Kosovo nach den vorgelegten Attesten und ärztlichen Berichten, auf die in Anwendung des § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO Bezug genommen wird, eine im vorgenannten Sinne erhebliche krankheitsbedingte individuelle Gefahr droht. Der Einzelrichter verkennt dabei nicht, dass die geschilderten Erkrankungen der Kläger zu 1) und 2) bei einer isolierten Betrachtungsweise im Lichte der in den Erkenntnismitteln dokumentierten Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems im Kosovo und im Lichte der neueren Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts eigentlich die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht erfüllen. Dieser Fall ist jedoch durch die einer verallgemeinernden Betrachtung und Bewertung nicht zugänglichen Besonderheit gekennzeichnet, dass nicht nur der Kläger zu 1), sondern auch die Klägerin zu 2) ausweislich des Inhalts der Betreuungsakten des Amtsgerichts Wolfsburg sowohl in ihrer körperlichen als auch in ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit - möglicherweise bedingt oder aber zumindest mit verursacht durch die ärztlich bestätigten Depressionen - derart eingeschränkt sind, dass sie selbst unter Inanspruchnahme der Hilfe ihres im Kosovo verbliebenen Sohnes ... nicht in der Lage wären, dort ihre täglichen Angelegenheiten zu besorgen und die notwendige medizinische Behandlung und Medikation ihrer vielfältigen und erheblichen Leiden sicherzustellen. [...]