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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 26.02.2015 - 3 A 278/14 - asyl.net: M22709
https://www.asyl.net/rsdb/M22709
Leitsatz:

Die Dublin-Verordnungen erlauben es einem Staat, den sie für zuständig erklären, nicht, die Prüfung eines Antrags zu verweigern, nur weil dieser es versäumt hat, einen Asylbewerber rechtzeitig in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Beim Übergang der Zuständigkeit infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist ist daher eine Anhörung durchzuführen, um zu prüfen, ob Wiederaufgreifensgründe oder nationale Abschiebungsverbote bestehen.

Schlagwörter: Kirchenasyl, Überstellungsfrist, Zweitantrag, Umdeutung, materielle Prüfung, materielles Asylrecht, Beurteilungszeitpunkt, maßgeblicher Zeitpunkt, Wiederaufnahmegründe, Umdeutung, Zuständigkeit, Übergang der Zuständigkeit, Anfechtungsklage, isolierte Anfechtungsklage, Fristablauf, rechtliches Hindernis, Zustimmungserklärung, Rechtsschutzinteresse, nationale Abschiebungsverbote, Wiederaufnahme des Verfahrens, Ziel, Verwaltungsakt, Verpflichtungsklage, Anfechtungsklage,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a, VO 604/2013 Art. 19 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 19 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 13, RL 2011/95/EU Art. 18, GG Art. 16a Abs. 1, VwVfG § 51, VwVfG § 51 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

In der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur (OVG Hamburg, Beschluss vom 02.02.2015 - 1 Bf 208/14.AZ -, juris, Rn. 12; Nds. OVG, Beschluss vom 06.11.2014, - 13 LA 66/14 -, juris, Rn. 6 f.; VGH BW, Urteil vom 16.04.2014, - A 11 S 1721/13 -, juris, Rn. 18; OVG NRW, Urteil vom 07.03.2014, - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 28 ff.; Bay VGH, Urteil vom 28.02.2014, - 13a B 13/30295 -, juris, Rn. 21 ff.; OVG Magdeburg, Urteil vom 02.10.2013, 3 L 643/12, juris, Rn. 21 ff.; Funke-Kaiser, GK AsylVfG, Stand Juni 2014, II - § 34a Rn. 64; Renner-Bergmann, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 34a AsylVfG Rn. 6) ist hinreichend geklärt, dass gegen einen Bescheid der Beklagten, worin das Bundesamt einen Asylantrag nach § 27a AsylVfG als unzulässig ablehnt und eine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG erlässt, die isolierte Anfechtungsklage statthaft ist; dies gilt auch, wenn ein Zweitantrag nach § 71a Abs. 1 AsylVfG vorliegt. Dem schließt sich der Einzelrichter an. Mangels eines Verpflichtungsbegehrens kommt es auf die seitens der Beklagten aufgeworfene Frage nach der Zulässigkeit einer "Zurückverweisung der Sache" nicht an; infolge der Aufhebung der Ziffer 1 des streitbefangenen Bescheides ist das Verwaltungsverfahren der Klägerinnen wieder in das Stadium zurückversetzt, in dem es sich vor dem Erlass des streitbefangenen Bescheides befand.

Die zulässige Klage ist auch begründet. Im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) ist der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13.05.2014 in der Fassung seines Schriftsatzes vom 27.01. 2015 rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Der streitbefangene Bescheid ist mit dem unstreitigen Ablauf der Überstellungsfrist objektiv rechtswidrig geworden. Vorliegend war gemäß Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der VO (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vorn 26.06.2013 (Dublin III-VO) der zuständige Mitgliedsstaat zunächst nach den Kriterien der Art. 18 Abs. 1, 19 Abs. 1 Dublin III-VO zu bestimmen, weil die Klägerinnen ihren Asylantrag in Deutschland nach dem 01.01.2014 gestellt haben. Die Zuständigkeit Italiens für das Asylbegehren der Klägerinnen folgte aus Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO und ging nach dem Ablauf der Sechsmonatsfrist des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland über. Irrelevant ist für die Fristberechnung die Frage, ob bzw. seit wann sich die Klägerinnen im "Kirchenasyl" aufhalten, weil es sich hierbei regelmäßig um eine strafbare Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt von Ausländern nach §§ 95 Abs. 1 AufenthG, 27 Abs. 1 StGB handelt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.06.2010 - 3 RVs 310/09 -, juris), der keine asyl- oder aufenthaltsrechtliche Wirkung zukommt. Die Einräumung von "Kirchenasyl" stellt kein rechtliches Hindernis für eine Rückführung dar; vielmehr haben die zuständigen Behörden in eigener Verantwortung zu entscheiden, ob sie den Vollzug durchsetzen (VG Göttingen, Urteil vom 23.02.2015 - 3 A 76/14; VG Ansbach, Beschluss vom 28.11.2011 - AN 2 S 11.30530, AN 2 E 11.30532 -,juris, Rn. 16; VG Bayreuth, Beschluss vom 06.11.2014 - B 4 E 14.730 -, juris, Rn. 11).

Zwar ist der Auffassung des Nds. OVG (Beschluss vom 06.11.2014 - 13 A 66/14 -, juris), wonach außer bei systemischen Mängeln (vgl. EuGH, Urteil vom 10.12.2013 - C-394/12 -, juris) aus den Dublin-Verordnungen keine subjektiv-öffentlichen Rechtspositionen der Asylbewerber ergeben, bei isolierter Betrachtung grundsätzlich zuzustimmen. Welche Rechtspositionen einem Asylbewerber jedoch zustehen können, wenn die Zuständigkeit eines "Dublin-Staates", die durch die (fiktive) Zustimmung zur Rücküberstellung begründet wurde, wegen der Nichteinhaltung von Überstellungsfristen auf den ersuchenden Staat übergegangen ist, ist in der.Rechtsprechung des EuGH und des Nds. OVG nicht geklärt. Es kann auch nicht angenommen werden, dass der "Dublin-Staat", der eine Zustimmungserklärung abgegeben hat, unbefristet zur Aufnahme des Asylbewerbers bereit ist. Die Zustimmungsklärung ist vielmehr in dem Kontext der Bestimmungen der Dublin-Verordnung zu sehen, wonach Zuständigkeiten auch wieder entfallen, wenn Fristen nicht eingehalten werden. Ist eine Zuständigkeit durch Fristablauf entfallen, kann sie nur durch eine ausdrückliche und erneute Zustimmungserklärung wieder begründet werden, die hier aber nicht vorliegt. Geht - wie im vorliegenden Fall - das beklagte Bundesamt selbst davon aus, dass [die] seine Zuständigkeit zur Prüfung des Asylbegehrens wegen des Ablaufes der Überstellungsfrist gegeben ist, so ist das Zuständigkeitsregime der Dublin III-VO beendet und folgt das subjektiv-öffentliche Recht der Klägerinnen auf die Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland aus Art. 16a Abs. 1 GG und Art. 13 und 18 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 Seite 9). Sie gehen davon aus, dass ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzstatus hat, wenn die Voraussetzungen dieser Richtlinie erfüllt sind. Die Dublin-Verordnungen haben lediglich zum Gegenstand, die Kriterien dafür festzulegen, welcher Mitgliedstaat oder andere Staat, in dem die Dublin-Verordnungen Anwendung finden, für die Prüfung des in der EU-Flüchtlingsschutz-Richtlinie definierten internationalen Schutzes zuständig ist. Sie erlauben einem Staat, den sie für zuständig erklären, aber nicht, die Prüfung eines Antrags vorübergehend oder gar auf Dauer zu verweigern, nur weil dieser es versäumt hat oder nicht in der Lage war, einen Asylbewerber rechtzeitig in den noch zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen oder das Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahren rechtzeitig durchzuführen. Die einzige "Sanktion", welche die Dublin-Verordnungen für ein Verhalten eines Asylbewerbers vorgesehen, ist die Verlängerung der Überstellungsfristen im Falle seiner Inhaftierung oder seines Untertauchens (vgl. Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO, Art. 29 . Abs. 2 Dublin III-VO). Es ist auch nicht erkennbar, wie ein Asylbewerber den Schwebezustand, in dem der früher zuständig gewesene Mitgliedstaat nicht mehr zuständig ist und der jetzt zuständige Mitgliedstaat davon ausgeht, er sei zwar im Verhältnis der "Dublin-Staaten" untereinander zuständig, dürfe dem Asylbewerber gegenüber aber eine Entscheidung verweigern, beenden sollte. Eine Rückkehr in den ursprünglich zuständigen Staat hilft ihm nicht weiter, da er dort auf die Prüfung seines Antrags keinen Anspruch mehr hat. Eine Abschiebung in diesen Staat ist auch nicht mehr möglich. Ein Weiterwandern in einen anderen "Dublin-Staat" führt auch nicht weiter, weil diesem gegenüber die Bundesrepublik Deutschland zuständig bleibt. Ein Asylbewerber kann, wenn die Bundesrepublik Deutschland für ihn aufgrund eines Fristablaufes zuständig geworden ist, in aller Regel nicht mehr auf einen früher zuständig gewesenen "Dublin-Staat" verwiesen werden (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 28.01.2015 - A 1 K 500/14 - juris, Rn 34). Unter diesen Umständen ist den Klägerinnen ein Anspruch nach Art. 13 und 18 der Richtlinie 2011/95/EU zuzuerkennen.

Da der Asylantrag nicht mehr nach § 27a AsylVfG wegen Unzuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland unzulässig ist, ist Ziffer 1 des Bescheides vom 13.05.2014 rechtswidrig geworden. Wenn das Bundesamt die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens übernimmt, wird durch den Ablauf der Überstellungsfrist das Verfahren gleichsam in den Zustand zurückversetzt, in dem es sich beider Antragstellung in Deutschland befunden hat. Damit lebt die Pflicht des Bundesamtes zur Behandlung des Asylantrages wieder auf. Dies schließt die Pflicht zur Durchführung eines ordnungsgemäßen Asylverfahrens einschließlich einer Anhörung gern. § 71a Abs. 2 i.V.m. § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG in Deutschland ein. Erst nach der Erfüllung dieser Verfahrenspflicht kann das Bundesamt prüfen, ob es sich um einen Erst- oder um einen Zweitantrag handelt (vgl. VG Würzburg, Urteil vom 27.11.2014 - W 3 K 13.30553 -, juris). Ob von der Anhörung - wovon das Bundesamt offenbar regelmäßig ausgeht - gem. § 71a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG abgesehen werden konnte, kann nicht überprüft werden, weil den Klägerinnen nicht bekannt war, dass ihr Begehren jetzt als Zweitantrag gewertet werden soll.

Darüber hinaus erhält Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides durch die zwischenzeitlich mit Schriftsatz des Bundesamtes vom 27.01.2015 vorgenommene inhaltliche Umdeutung der Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrages wegen der Zuständigkeit Italiens in eine sinngemäße Ablehnung eines Zweitantrages gemäß § 71a AsylVfG jedenfalls aus der hier zunächst allein zu bewertenden Sicht des Bundesamtes eine andere rechtliche Qualität. Denn die Entscheidung im Dublin-Verfahren betrifft allein die Frage, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Dagegen muss im Rahmen der Prüfung eines Zweitantrages gem. § 71a Abs. 1 AsylVfG festgestellt werden, ob seit der Beendigung des Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG eingetreten sind, es muss damit eine Beurteilung des inhaltlichen Vortrags des Asylbewerbers erfolgen. Darüber hinaus müssen gem. §§ 71a Abs. 2, 24 Abs. 2 AsylVfG auch die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geprüft werden. Eine inhaltliche Ablehnung des Asylbegehrens ist zudem für den Antragsteller ungünstiger als der bloße Verweis auf das Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat (VG Würzburg, Urteil vom 13.01.2015 - W 3 K 14.30.092 -, juris, Rn 28ff). Die im Schriftsatz des Bundesamtes vom 27.01.2014 angesprochene Umdeutung der Ziffer 1 des Bescheides vom 13.05.2014 gemäß § 47 Abs. 1 VwVfG ist daher nicht zulässig, weil der umgedeutete Verwaltungsakt nicht mehr auf das gleiche Ziel wie vor der Umdeutung gerichtet wäre und die Rechtsfolgen für die Klägerinnen ungünstiger wären (vgl. auch VG Osnabrück, Urteil vom 16.02.2015 - 5 A 248/14 -, OVG-Rechtsprechungsdatenbank).

Hinzu kommt, dass das Bundesamt den Verwaltungsakt, der nach § 9 VwVfG das Verwaltungsverfahren beenden soll, bereits erlassen (bzw. umgedeutet aufrecht erhalten) will, bevor den Klägerinnen Gelegenheit gegeben wurde, sich zu Wiederaufgreifensgründen im Sinne von § 51 VwVfG zu äußern sowie Tatsachen vorzutragen, welche für das Vorliegen von nationalen Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG relevant sein könnten (zum Verfahren vgl. VGH BW, Beschluss vom 19.01.2015 - A 11 S 2508/14 -, juris, Rn 6f.; BayVGH, Beschluss vom 23.01.2015 - 13a ZB 14.50071 -, juris, Rn 7ff.). Weder ist zu erkennen, wie das Bundesamt die Ergebnisse der schriftlichen Befragung vom 27.01.2015 in das (abgeschlossene) Verwaltungsverfahren einzubeziehen gedenkt, noch erschließt sich dem Gericht, ab welchem Zeitpunkt die dreimonatige Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG beginnen und in welchem Rahmen das Verschuldenserfordernis des § 51 Abs. 2 VwVfG geprüft werden soll; immerhin durften und mussten die Klägerinnen jedenfalls bis zum Erhalt des Schriftsatzes der Beklagten vom 27.01.2015 davon ausgehen, dass ihr Vorbringen durch den Streitgegenstand des Gerichtsverfahrens auf Gründe beschränkt war, aus denen ihre Rücküberstellung nach Italien rechtswidrig sein könnte. [...]