LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.02.2015 - L 15 AS 353/14 B ER - asyl.net: M22781
https://www.asyl.net/rsdb/M22781
Leitsatz:

Kann ein Ausländer aufgrund einer Wohnsitzauflage keinen gewöhnlichen Aufenthalt an einem anderen Ort als dem zugewiesenen begründen, ergibt sich die Leistungsverpflichtung aus § 36 S. 4 SGB II, wonach der Träger der Grundsicherung örtlich zuständig ist, in dessen Bereich sich der erwerbsfähige Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält.

Im Übrigen dürfte es nicht Aufgabe des Leistungsrechts der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein, ausländerrechtliche Bestimmungen durchzusetzen.

Schlagwörter: SGB II, Sozialleistungen, örtliche Zuständigkeit, Zuständigkeit, Aufenthaltstitel, Aufenthaltserlaubnis, gewöhnlicher Aufenthalt, Wohnsitzauflage, eigenmächtige Wohnsitznahme, tatsächlicher Aufenthalt,
Normen: SGB II § 7, SGB II § 19, SGB II § 7a, SGB II § 25 Abs. 2, SGB II § 8 Abs. 1, SGB II § 36, SGB I § 30 Abs. 3 S. 2, SGB II § 36 S. 4,
Auszüge:

[...]

Die von der Antragstellerin begehrten Leistungen nach dem SGB II finden ihre Anspruchsgrundlage in §§ 7 ff., 19 ff. SGB II. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig sind (Nr. 3) sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Die Antragstellerin hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht. Sie ist erwerbsfähig i.S. des § 8 Abs. 2 SGB II, da in ihrem Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 2 AufenthG ausdrücklich eine Erwerbstätigkeit gestattet ist. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dahingehend, dass die Antragstellerin erwerbsunfähig i.S.d. § 8 Abs. 1 SGB II sein könnte. Die Antragstellerin hat auch ihre Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht. Strittig ist zwischen den Beteiligten allein die für die örtliche Zuständigkeit gemäß § 36 SGB II relevante Frage des gewöhnlichen Aufenthalts der Antragstellerin in Bremen, da in ihrem Aufenthaltstitel eine Wohnsitznahme in Mecklenburg-Vorpommern vorgeschrieben ist.

Der Antragsgegner beruft sich auf die Entscheidung des 13. Senats des erkennenden Gerichts vom 6. Juni 2013 (L 13 AS 122/13 B ER). Der Senat hat bereits Zweifel, ob er der dort vertretenen Rechtsauffassung des 13. Senats (im Ergebnis auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Juli 2014 - L 14 AS 1569/14 B ER) beitreten kann, wonach die Anerkennung des gewöhnlichen Aufenthaltes in Fällen einer ausländerrechtlich zulässigen Beschränkung der Freizügigkeit nur dort in Betracht kommt, wo die Antragsteller ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Einklang mit der Rechtsordnung auch nehmen durften.

Nach § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen. Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist (BSG, Urteil vom 30.3.2013 - B 4 AS 54/12 R). Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn er zukunftsoffen ist. Nach der Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG, a.a.O., juris Rdn. 17) läuft es der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zuwider, wenn unter Berufung auf eine sog. Einfärbungslehre dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale im Sinne von rechtlichen Erfordernissen zum Aufenthaltsstatus aufgestellt werden und damit einzelnen Personengruppen der Zugang zu existenzsichernden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts versperrt wird. Zudem habe der Gesetzgeber diese Rechtsprechung nur in Teilbereichen, etwa beim Kinder-, Erziehungs- und Elterngeld, aufgegriffen und einen Anspruch von einem definierten Aufenthaltsstatus abhängig gemacht. Ein diesen Regelungen entsprechendes, also zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Anspruchsmerkmal im Sinne des Innehabens einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU bzw. eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG fehle im SGB II. Vielmehr habe der Gesetzgeber mit § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II in einer anderen Regelungssystematik ein Ausschlusskriterium von SGB II-Leistungen nur für diejenigen Ausländer vorgesehen, deren "Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe". Setzt man diese Rechtsprechung konsequent um, steht die Wohnsitzauflage einem "gewöhnlichem Aufenthalt" der Antragstellerin in Bremen nicht entgegen.

Im Ergebnis kann dies aber offen bleiben. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Antragstellerin aufgrund der Wohnsitzauflage keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Bremen begründen kann, ergibt sich die Leistungsverpflichtung des Antragsgegners aus § 36 S. 4 SGB II. Danach ist der Träger der Grundsicherung örtlich zuständig, in dessen Bereich sich der erwerbsfähige Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält, wenn ein gewöhnlicher Aufenthalt nicht feststellbar ist. Ihren gewöhnlichen Aufenthalt In Rostock hat die Antragstellerin nicht (mehr), da sie sich dort tatsächlich nicht aufhält. Soweit man unterstellt, dass die Antragstellerin durch die eigenmächtige Wohnsitznahme ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Bremen nicht begründen konnte, fehlt es auch in Bremen am gewöhnlichen Aufenthalt. Damit greift die Vorschrift des § 36 S. 4 SGB II und es kommt damit auf den tatsächlichen Aufenthalt der Antragstellerin an. Dass die Antragstellerin sich tatsächlich in Bremen aufhält, unterliegt keinem Zweifel.

Nur der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die Ausländerbehörden die eigenmächtige Wohnsitznahme der Antragstellerin in Bremen offensichtlich tolerieren. Nach Aktenlage hält sich die Antragstellerin seit August 2014 in Bremen auf. Aktivitäten der Ausländerbehörde zur Durchsetzung der Wohnsitzauflage sind nicht ersichtlich. Über den Widerspruch der Antragstellerin wurde bislang offensichtlich nicht entschieden. Im Übrigen dürfte es nicht Aufgabe des Leistungsrechts der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein, ausländerrechtliche Bestimmungen für die Ausländerbehörde durchzusetzen. [...]

Anwaltsdatenbank, RA Wagner (Kanzlei Engel und Partner), Bremen