LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.03.2015 - L 9 SO 44/15 B ER - asyl.net: M22870
https://www.asyl.net/rsdb/M22870
Leitsatz:

Der Leisungsausschluss nach § 23 Abs. 3 SGB XII, der einen finalen Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe im Sinne eines ziel- und zweckgerichteten Handelns erfordert (BVerwG, Urt. v. 04.06.1992 - 5 C 22.87 - juris, Rn. 11), ist nicht im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 11.11.2014 - C-333/13 ("Dano"), welche sich auf das spezielle Rechtsregime innerhalb der EU bezieht, zu modifizieren. Es ist insbesondere auch gemeinschaftsrechtlich nicht geboten, Unionsbürger und Nicht-Unionsbürger über eine dem einfachen Recht nicht zu entnehmende, extensivere Anwendung des Leistungsausschlusses im Sinne eines "erst recht"-Schlusses unabhängig vom Einzelfall gleich zu behandeln.

Schlagwörter: Einreise um Sozialhilfe zu erlangen, Serbien, Sozialleistungen, Leistungsausschluss, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Sozialhilfebezug, EuGH, Drittstaatsangehörige, Unionsbürger, Unionsbürgerrichtlinie, Finalität,
Normen: SGB XII § 23 Abs. 1 S. 1, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

a) Der materiell-rechtliche Anspruch der Antragstellerinnen auf Sozialhilfe folgt aus § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Danach ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, u.a. Hilfe zum Lebensunterhalt sowie Hilfe bei Krankheit nach diesem Buch zu leisten. Die Antragstellerinnen, die beide ... Staatsangehörige sind, gehören zu dem nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII anspruchsberechtigten Personenkreis, da sie sich seit dem 21.06.2014 ununterbrochen im Bundesgebiet tatsächlich aufhalten. Das Sozialgericht hat auch zu Recht ausgeführt, dass im tenorierten Zeitraum (16.01.2015 bis zum 27.02.2015) der Ausschlusstatbestand des § 23 Abs. 2 SGB XII keine Anwendung findet, weil es sich bei den Antragstellerinnen nicht um Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes - (AsybLG) handelt, insbesondere sie aufgrund der ihnen erteilten und nach Aktenlage bis zum 27.02.2015 gültigen sog. Fiktionsbescheinigung nach § 31 Abs. 3 Satz 1 Aufenthaltsgesetzes - (AufenthG) - nicht vollziehbar ausreisepflichtig i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG sind und bis zur noch offenen Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über den Aufenthaltsstatus der Antragstellerinnen, insbesondere zu den Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 4 AufenthG oder das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG, die sonstigen Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG nicht vorliegen.

Ein Leistungsausschluss ergibt sich zur Überzeugung des Senats entgegen den Ausführungen der Antragsgegnerin auch nicht aus § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII. Danach haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Dass die Antragstellerinnen, denen ausweislich der erteilten Fiktionsbescheinigungen eine Erwerbstätigkeit nicht gestattet ist, zum Zwecke der Arbeitssuche eingereist sind, ist, wie das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat, weder vorgetragen noch sonst nach Aktenlage ersichtlich und wird auch von der Antragsgegnerin nicht behauptet. Es ist aber auch nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerinnen eingereist sind, "um" Sozialhilfe "zu" erlangen. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII verlangt schon ausweislich seines insoweit eindeutigen Wortlauts ("um - zu") einen finalen Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe im Sinne eines ziel- und zweckgerichteten Handelns (BVerwG, Urt. v. 04.06.1992 - 5 C 22.87 -, juris Rn. 11). Hierfür genügt ein nur fahrlässiges Verhalten bei der Einschätzung der Hilfebedürftigkeit und der Möglichkeit, sich selbst helfen zu können, nicht. Erforderlich ist vielmehr, dass nach den objektiven Umständen von einem Wissen und Wollen mindestens im Sinne eines Vorsatzes ausgegangen werden kann, der für den Entschluss zur Einreise von prägender Bedeutung gewesen sein muss, ohne dass hierin auch ein "unlauteres Verhalten" gesehen werden müsste (jurisPK-SGB XII/Coseriu, § 23 Rn. 54). Der erforderliche Zusammenhang zwischen der Einreise und der missbilligten Inanspruchnahme von Sozialhilfe besteht nicht nur, wenn der Wille, Sozialhilfe zu erlangen, der einzige Einreisegrund ist. Beruht die Einreise des Ausländers auf verschiedenen Motiven, ist das Erfordernis des finalen Zusammenhangs auch erfüllt, wenn der Zweck der Inanspruchnahme von Sozialhilfe für den Einreiseentschluss von prägender Bedeutung ist. Das bedeutet, dass die Möglichkeit, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, für den Einreiseentschluss des Ausländers, sei es allein, sei es neben anderen Gründen, in besonderer Weise bedeutsam gewesen sein muss. Es genügt daher nicht, dass der Sozialhilfebezug beiläufig erfolgt oder anderen Einreisezwecken untergeordnet und in diesem Sinne (nur) billigend in Kauf genommen wird (BVerwG, Urt. v. 04.06.1992 - 5 C 22.87 -, juris Rn. 12: LSG NRW, Beschl. v. 12.01.20 - L 20 B 58/08 AY -, juris Rn. 25; Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl. 2014, § 23 Rn. 43).

Nach Aktenlage kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Bezug von Sozialhilfe das beherrschende Motiv der Antragstellerinnen für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gewesen ist. So hat die Antragstellerin zu 1) seit ihrer Einreise am 21.06.2014 sowohl im ausländerrechtlichen als auch sozialhilferechtlichen Verfahren stets geltend gemacht, dass sie mit der Antragstellerin zu 2) aus humanitären Gründen infolge

einer Flutkatastrophe in Serbien nach Deutschland zu ihrer in Bielefeld lebenden Schwester geflüchtet sei. In Serbien seien sie in einer Notunterkunft ohne adäquate medizinische Versorgung untergebracht worden, die sich aus Sicht die Antragstellerin zu 1), die ausweislich der vorgelegten medizinischen Unterlagen mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Retraumatisierungsgefahr leidet, als lebensbedrohlich darstellte. Dementsprechend strebt sie ausländerrechtlich eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 4 AufenthG oder zumindest die Feststellung des Bestehens eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG an. Dass die Antragstellerinnen dieses Motiv nur vorgeschoben hätten, um in Wahrheit Leistungen der Sozialhilfe zu erlangen, kann ihren angesichts der Aktenlage nicht unterstellt werden. Zwar trifft es zu, dass die Antragstellerin zu 1) nach ihrer Einreise auch angegeben hat, aus Serbien geflüchtet zu sein, nachdem ihnen infolge der Flutkatastrophe "die Existenzgrundlage genommen" worden sei und sie nicht über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts oder eine abgeschlossene Krankenversicherung verfügen würden. Dieser Aussage kann jedoch noch kein finaler Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe entnommen werden. Insbesondere geht hieraus nicht hervor, dass die Erlangung von Sozialhilfemitteln beherrschendes Motiv für die Einreise gewesen ist, sondern stellt sich zunächst nur als Hinweis auf die bestehende Hilfebedürftigkeit dar, die Voraussetzung für jede Inanspruchnahme von Sozialhilfe ist. Die infolge der Flutkatastrophe entstandenen humanitären Bedingungen, die aus der maßgeblichen Sicht der Antrgstellerinnen ein Leben in ihrer Heimat mehr als erschwert haben, können nach Lage der Akten jedenfalls nicht als bloß untergeordneter Einreisezweck angesehen werden, die die Beanspruchung vor Sozialhilfe zum vorherrschenden Motiv erhoben haben.

Soweit sich die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 11.11.2014 - C-333/13 - Dano beruft, indem sie geltend macht, dass, wenn es diese Entscheidung ermögliche, Unionsbürger unter bestimmten Voraussetzungen von der Gewährung von Sozialhilfe auszuschließen, dies "erst recht" für Bürger aus Nicht-Unionsmitgliedstaaten gelten müsse, folgt hieraus kein für sie günstigeres Ergebnis. Der EuGH hat ausweislich des Tenors zu 2) in seinem Urteil vom 11.11.2014 festgestellt, dass u.a. Art. 24 Abs. 1 der (Unionsbürger-)Richtlinie 2034/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, dahin auszulegen ist, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter "besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen" i.S.d. Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht. Diese auf das spezielle Rechtsregime innerhalb der Europäischen Union bezogene Entscheidung bietet jedoch keine rechtliche Handhabe, die hier streitentscheidende nationale, einfachrechtliche Vorschrift des § 23 Abs. 3 SGB XII hinsichtlich des Kautels der "Finalität" ("um zu") im Sinne der Antragsgegnerin zu modifizieren. Es ist insbesondere auch gemeinschaftsrechtlich nicht geboten, Unionsbürger und Nicht-Unionsbürger über eine dem einfachen Recht nicht zu entnehmende, extensivere Anwendung des Leistungsausschlusses des § 23 Abs. 3 SGB XII in Sinne eines "erst recht"-Schlusses ohne Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalles gleich zu behandeln. Im Übrigen gilt nach einfachem Recht das Kriterium des finalen Zusammenhangs zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe für alle Ausländer gleichermaßen, so dass die von der Antragsgegnerin unterstellte Ungleichbehandlung mit der Folge des Auftretens einer wie auch immer gearteten Gesetzeslücke nicht besteht. Auch weist der Senat darauf hin, dass die Auffassung der Antragsgegnerin auf eine unzulässige richterliche Rechtsfortbildung hinauslaufen würde, die am Maßstab des für Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums geltenden Gesetzesvorbehalts die verfassungsrechtlichen Grenzen überschreiten dürfte (vgl. hierzu im anderen Zusammenhang HessLSG, Beschl. v. 05.02.2015 - L 6 AS 833/14 B ER -. juris Rn. 13).

Die Antragstellerinnen sind, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist, auch hilfebedürftig, weil sie nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt aus den zur Verfügung stehenden Mitteln, insbesondere aus Einkommen (§§ 52 ff. SGB XII) oder Vermögen (§ 90 SGB XII) zu bestreiten, da sie über solche Mittel nach ihren eigenen glaubhaften Angaben sowie nach Aktenlage nicht verfügen. Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts im angefochtenen Beschluss Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

b) Ferner haben die Antragstellerinnen ah den Zeitpunkt ihres Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bei dem Sozialgericht (16.01.2015) auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, weil bei ihnen aufgrund des Fehlens erforderlicher Mittel zur Deckung ihres Lebensunterhalts (§ 23 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. §§ 27, 27a, 28 SGB XII) sowie ihres Bedarfs an Hilfen zur Gesundheit (§ 23 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. §§ 47 ff. SGB XII) eine gegenwärtige Notlage zumindest einzutreten drohte. Der Senat schließt sich gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auch insoweit den zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts an.

[...]