VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 07.05.2015 - RO 3 K 15.30616 - asyl.net: M22905
https://www.asyl.net/rsdb/M22905
Leitsatz:

Die hohe Arbeitsbelastung des BAMF kann nicht mehr als vorrübergehend angesehen werden. Es handelt sich vielmehr um eine permanente Überlastung, die keinen zureichenden Grund für eine Nichtbescheidung von Asylanträgen i.S.v. § 75 VwGO darstellt. Ein "Durchentscheiden" durch das Gericht ist im Rahmen eines Erstverfahrens ausnahmsweise dann möglich, wenn ein tatsächlich und rechtlich einfach gelagerter Fall vorliegt.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Untätigkeitsklage, Arbeitsüberlastung, Überlastung, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Verfahrensdauer, Durchentscheiden, Spruchreife, Yeziden, Irak, Nordirak, Asylverfahren, Geschäftsbelastung, Beschleunigungsgebot,
Normen: VwGO § 42 Abs. 1 3. Alt., VwGO § 42 Abs. 1, VwGO § 75 S. 2, AsylVfG § 24 Abs. 4, VwGO § 75 S. 3, AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die Klage auf die Verpflichtung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist zulässig.

Die Klage ist als Untätigkeitsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 3 VwGO statthaft. Ferner liegen die Voraussetzungen des § 75 Satz 2 VwGO vor, wonach die Klage u.a. nicht vor Ablauf von drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts erhoben werden kann. Der Kläger wurde am 31. Juli 2014 als Asylsuchender registriert. Die Klageerhebung am 22. April 2015 erfolgte fast neun Monate nach diesem Datum. Vor diesem Hintergrund kann es dahingestellt bleiben, ob die Frist des § 75 Satz 2 VwGO für das Asylverfahren wegen § 24 Abs. 4 AsylVfG auf sechs Monate verlängert wird (vgl. hierzu VG Ansbach vom 4.8.2014 Az. AN 11 K 13.31060).

Ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung des Antrags gemäß § 75 Satz 3 VwGO lag weder im Zeitpunkt der Klageerhebung vor, noch ist er im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) gegeben. Wann von einem zureichenden Grund gemäß § 75 Satz 3 VwGO auszugehen ist, beurteilt sich nach objektiven Kriterien. Während eine kurzfristige, nur vorübergehende besondere Geschäftsbelastung einen zureichenden Grund für die Nichtentscheidung darstellen kann, ist dies bei einer permanenten Überlastung von Behörden nicht der Fall. Denn in einer solchen Situation gehört es zur Aufgabe des zuständigen Ministeriums bzw. der Behördenleitung, für hinreichende Personalaufstockung zu sorgen oder entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen (vgl. Sodann/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Auflage, § 75, Rdnr. 52 m.w.N.).

Die hohe Arbeitsbelastung bzw. Überlastung des Bundesamtes aufgrund der gestiegenen Erst- und Folgeverfahren kann nicht mehr als vorübergehend angesehen werden. Laut Geschäftsstatistik des Bundesamts war spätestens ab dem Jahr 2013 eine massive Steigerung der Erst- und Folgeanträge zu verzeichnen (127.023 im Vergleich zu 77.651 im Jahr 2012), die sich im Jahr 2014 nochmals drastisch um rund 60 % auf 202.834 erhöhte. Mit einer weiteren Steigerung im Jahr 2015 ist zu rechnen. In einer derartigen Situation, die schon über Jahre besteht und deren Ende nicht absehbar ist, kann von einer nur vorübergehenden Überbelastung keine Rede mehr sein. Es handelt sich vielmehr um eine permanente Überbelastung, die keinen zureichenden Grund für eine Nichtbescheidung von Asylanträgen i.S.v. § 75 VwGO darstellt. Soweit das Bundesamt bzw. die personalausstattende Stelle organisatorische Maßnahmen ergriffen und das Personal aufgestockt hat, genügen diese Maßnahmen offenkundig nicht, um die eingehenden Asylverfahren in angemessener Zeit bearbeiten zu können. Eine Wartezeit von fast einem Jahr - zumal ohne das Inaussichtstellen eines alsbaldigen Anhörungs- und Entscheidungstermins - ist nicht mehr vertretbar. Es ist Aufgabe und Pflicht der zuständigen Stelle, das Bundesamt in dem erforderlichen Umfang mit Personal auszustatten, um entsprechende Abhilfe zu schaffen (vgl. VG Regensburg vom 27.2.2015, Az. 8 K 15.30087; VG Düsseldorf vom 30.10.2014, Az. 24 K 992/14.A).

2. Die Klage ist auch begründet, da der Kläger als Yezide aus dem Irak im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Dem Gericht ist es im vorliegenden Verfahren möglich, Spruchreife gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO herzustellen und "durchzuentscheiden". Das Gericht hat bei einem Folgeantrag bei einer Änderung der Sach- oder Rechtslage die Pflicht zur Herstellung der Spruchreife. Dabei ist zu prüfen, ob eine abschließende Entscheidung zu Lasten oder zu Gunsten der Klagepartei möglich ist. Ist dies der Fall, hat das Gericht "durchzuentscheiden" (vgl. BVerwG vom 20.10.2004, Az. 1 C 15.3, vom 10.2.1998, Az. 9 C 28.97). Bei einer Untätigkeitsklage im Rahmen eines Erstantragsverfahrens kommt in der Regel ein Durchentscheiden des Gerichts nicht in Betracht, so dass ein Antragsteller grundsätzlich nur einen Anspruch darauf geltend machen kann, dass die Beklagte in angemessener Frist über den Asylantrag entscheidet (vgl. VG Regensburg vom 27.2.2015 a.a.O.). Ausnahmsweise kommt aber auch bei Erstanträgen ein "Durchentscheiden" in Betracht, wenn ein tatsächlich und rechtlich einfach gelagerter Fall vorliegt. Dies ist z.B. der Fall, wenn der Antragsteller zu einer Personengruppe gehört, der nach einer gefestigten Entscheidungspraxis der Beklagten Flüchtlingsschutz zusteht. Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Gericht kann ohne weiteres die Spruchreife herbeiführen. Eine Rückverweisung zur Entscheidung durch die Beklagte würde das auf Beschleunigung ausgerichtete Asylverfahren unnötig verzögern.

Der Kläger hat als Yezide aus dem Nordirak einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG, da er sich nach der Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion durch nichtstaatliche Akteure außerhalb seines Heimatlandes befindet, § 3 Abs. 1, 4 AsylVfG. Außerdem entspricht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Yeziden der Verwaltungspraxis der Beklagten, so dass der Kläger sich insoweit auch auf den Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Art. 3 des Grundgesetzes (GG) berufen kann. [...]