VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 26.05.2015 - 19 AE 2509/15 - asyl.net: M22939
https://www.asyl.net/rsdb/M22939
Leitsatz:

Zumindest für besonders schutzbedürftige Dublin-Rückkehrer besteht in Ungarn die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Auch besonders schutzbedürftige Asylsuchende wie psychisch Kranke und Familien mit Kindern werden regelmäßig inhaftiert. Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist nicht gewährleistet.

Schlagwörter: Dublin III-Verordnung, Dublinverfahren, Ungarn, Aufnahmebedingungen, besonders schutzbedürftig, systemische Mängel, Inhaftierung, Europäische Menschenrechtskonvention, Kinder, Kind, minderjährig, Krankheit, psychische Erkrankung,
Normen: AsylVfG § 34a, AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 26a, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsfindung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) ist ernsthaft zu befürchten, dass das Asyl(folge)verfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn - zumindest für besonders schutzbedürftige Personen wie der schwangeren und psychisch kranken Antragstellerin zu 2 und den minderjährigen Antragstellern zu 3 und 4 - systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der GR-Charta implizieren. [...]

Hiervon ist vorliegend auszugehen. Dabei hat die Einzelrichterin nicht unberücksichtigt gelassen, dass Teile der Rechtsprechung derzeit systemische Mängel in Ungarn verneinen. So kürzlich bspw. das Verwaltungsgericht Hamburg in Bezug auf volljährige gesunde Männer ohne Angehörige (Beschl. v. 18.5.2015 - 19 AE 2340/15; Beschl. v. 18.2.2015 - 2 AE 354/15, juris Rn. 12 m.w.N.).

Für Dublin-Rückkehrer wie der schwangeren Antragstellerin zu 2, die laut des ärztlichen Attests vom 29. April 2015 an einer Depression und einer Störung des Sozialverhaltens mit andauerndem aggressivem Verhalten leidet und einer längerfristigen ärztlichen Behandlung und Betreuung bedarf, ist die Einzelrichterin jedoch zu einer anderen Überzeugungsgewissheit gekommen. [...]

Bei der Prüfung, ob eine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG zu beanstanden ist, ist stets ist ein konkreter Maßstab angezeigt. D.h. es ist zu prüfen, ob gegebenenfalls zu gewärtigende systemische Mängel gerade den (jetzt) zur Rücküberstellung vorgesehenen Asylbewerber in einer seine Grundrechte tangierenden Weise treffen könnten (vgl. VG Stuttgart, Beschl. v. 31.1.2014 - A 11 K 3470/13, juris Rn. 10; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 14.11.2013 - 4 L 44/13, zur Notwendigkeit einer solchen Einzelfallbetrachtung im Rahmen der Prüfung eines Selbsteintritts gem. Art. 3 Abs. 2 der Dublin-VO: Schlussanträge der Generalanwältin vom 22.9.2011 in dem Verfahren C-411/10 "N.S. gegen Secretary of State for the Home Department", juris Rn. 122 ff.; Marx, NVwZ 2011, 409, 411 ff.; Hailbronner/Thym, NVWZ 2012, 406, 408).

Ausweislich des Attests vom 29. April 2015 befindet sich die Antragstellerin zu 2 seit März 2015 in Behandlung der Unterzeichnerin. Aufgrund ihrer schlechten seelischen Verfassung und ihrem aggressiven Verhalten wurde eine intensive Behandlung und Betreuung begonnen. Nach einem Suizidversuch trotz medikamentöser Behandlung wurde ihr eine stationäre Behandlung nahe gelegt, die sie aufgrund der - ihrer Meinung nach - notwendigen Betreuung ihrer Kinder durch ihre Person ablehnte. Es erfolgte eine Umstellung auf ein anderes Antidepressivum. Auf die Mitteilung der erneuten Schwangerschaft unternahm die Antragstellerin einen weiteren Suizidversuch und wurde vom 27. April 2015 bis zum 4. Mai 2015 stationär im Asklepios Westklinikum aufgenommen (vgl. Ärztliche Bescheinigung des Asklepios Westklinikums v. 30.4.2015).

Es ist davon auszugehen, dass die körperliche Integrität der Antragstellerin zu 2, die in Ungarn höchstwahrscheinlich in Haft genommen wird, ernsthaft bedroht wäre, da nicht sichergestellt ist, dass sie die notwendige psychologische/psychiatrische Behandlung und Medikation erhält.

Wie in drei Auskünften der Vertretung in Deutschland des UNHCR (v. 30.9.2014 an das VG Bremen, das VG Düsseldorf bzw. das VG Freiburg, Asyldokumentation des OVG Hamburg, Ordner Dublin-II/III, Abschnitt Ungarn G 4 bis 6/14) ausgeführt, werden. praktisch alle Dublin-Rückkehrer, die - wie der Antragstellerin - bereits einen Asylantrag in Ungarn gestellt haben, in Asylhaft genommen. Nach dem aktuellen "Country Report Hungary" der Asylum Information Database (Stand: 17. Februar 2015, abrufbar unter www.asylumineurope.org/sites/default/ files/report-download/aida_hungary_thirdupdate-final_february 2015.pdf) werden auch schutzwürdige Personen, ausgenommen unbegleiteter Minderjähriger, inhaftiert. Regelmäßig werden Personen mit speziellen Bedürfnissen (bspw. ältere Personen, Personen mit physischen oder psychischen Problemen etc.) in Haft genommen und bekommen keine adäquate Unterstützung. Mechanismen, um Personen mit speziellen Bedürfnissen zu identifizieren, bestehen nicht (vgl. Detention conditions, S. 61).

Art. 3 EMRK verpflichtet die Staaten, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind (EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/09, Rn. 221, hudoc.echr.coe - M.S.S. ./. Belgien und Griechenland). Ausgehend vom Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde (vgl. Höfling, in Sachs, GG, 7. Aufl., Art. 1 Rn. 19 ff.) wären die Bedingungen der Haft dann menschenunwürdig, wenn die körperliche Integrität, menschengerechte Lebensgrundlagen, elementare Rechtsgleichheit, personale Identität und Integrität bedroht wären. Zur körperlichen Integrität gehört neben der Gesundheit im biologisch-physiologischen Bereich auch die Gesundheit im psychischen Bereich (BeckOK GG, Stand: 1.3.2015, Art. 2 GG Rn. 62).

In tatsächlicher Hinsicht legt das Gericht ein Gutachten von Pro Asyl e.V. (an das VG Düsseldorf v. 31.10.2014, S. 3 ff.) zugrunde. Danach ist in den Hafteinrichtungen lediglich eine medizinische Grundversorgung gewährleistet, die von den Inhaftierten oftmals als unzureichend kritisiert wird. Weiterhin kommt es zu Verständigungsschwierigkeiten aufgrund nicht vorhandener Übersetzer. Sanitäter bzw. Krankenschwestern sind permanent anwesend. Allgemeinmediziner besuchen die Einrichtung zeitweise, Zugang zu fachärztlicher Behandlung besteht lediglich in Ausnahme- bzw. Notfällen. Insbesondere die vorliegend relevanten psychologischen/psychiatrischen Behandlungen werden in der Regel nicht durchgeführt. Eine Psychiaterin der NGO "Cordelia", die traumatisierte Flüchtlinge unterstützt, besucht - laut des Gutachtens - ausschließlich die Hafteinrichtung Bekescsaba und dies auch nur für einige Stunden in der Woche.

Davon geht auch der "Country Report Hungary" aus, nach dem nur einige wenige Experten andere Sprachen sprechen und noch weniger von ihnen Erfahrungen im Bereich psychischer Problembehandlung haben. Die einzige Organisation, die hierfür die notwendige Erfahrung hat, ist eine Nichtregierungsorganisation - die Cordelia Foundation - die nur in einigen Einrichtungen und nur mit geringer Kapazität aktiv ist. Für diese so dringend gebrauchten Leistungen fehlt es an einer durch die Behörden getragenen Organisation und Durchführung (a.a.O. S. 50).

Auch im Hinblick auf die Antragsteller zu 3 und 4 ist davon auszugehen, dass diese im Fall ihrer Abschiebung nach Ungarn dort inhaftiert werden, sowie, dass die Inhaftierung für eine nicht nur unerhebliche Dauer und unter Bedingungen erfolgen wird, die für ein 7 Jahre altes und ein 3 Jahre altes Kind eine Verletzung von Art. 4 GR-Charta darstellen.

Auch bei Familien mit Kindern ist nicht (mehr) davon auszugehen, dass diese nicht mit ihrer Inhaftierung rechnen müssten (so jeweils unter Bezugnahme auf ältere Erkenntnisquellen: VG Ansbach. Urt. v. 6.2.2015, AN 14 K 14.50206, juris Rn. 27; VG Regensburg, Beschl. v. 4.2.2015, RO 1 S 15.50021, juris Rn. 27; VG Würzburg, Beschl. v. 2.1.2015, W 1 S 14.50120, juris Rn. 39 m.w.N.). Vielmehr lässt sich dem aktuellen aida-Bericht entnehmen, dass seit September 2014 Familien mit Kindern in der Praxis häufig inhaftiert werden (a.a.O., S. 51: "often detained" bzw. S. 52: "frequently").

Art. 3 EMRK verpflichtet die Staaten, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind (EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/09, Rn. 221, hudoc.echr.coe - M.S.S. ./. Belgien und Griechenland). Die Inhaftierung von Kindern kann - auch in Begleitung ihrer Eltern - zu einer Verletzung der Kinder in ihrem Recht aus Art. 3 EMRK führen, wenn die Haftbedingungen für die Kinder eine Situation von Stress und Angst schaffen und traumatisierende Folgen für ihre Psyche haben können (EGMR, Entsch. v. 19.1.2012, Case of Popov vs. France, 39472/07 und 394747/07, in englischer und französischer Sprache abrufbar unter. httpJ/hudoc.echr.cae.int). Ob eine solche Verletzung anzunehmen ist, beurteilt sich dabei unter Berücksichtigung des Alters der Kinder vor allem nach der Dauer ihrer Inhaftierung und den Bedingungen der Haft.

Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen ist die Einzelrichterin zu der Überzeugung gelangt, dass die den Antragstellern zu 3 und 4 drohende Inhaftierung für einen nicht nur unerheblichen Zeitraum, sondern auch unter Bedingungen erfolgen wird, die minderjährigen Kindern nicht zuzumuten sind (so im Ergebnis für ein dreizehnjähriges Mädchen: VG Hamburg, Beschl. v. 8.4.2015 - 2 AE 1490/15).

Nach dem Gutachten von Pro Asyl (a.a.O. S. 3 ff.) macht die Ungarische Migrationsbehörde (Office for Integration and Nationalities) seit September 2014 von der im "Asylum Act" vorgesehenen Möglichkeit, Familien mit minderjährigen Kindern bis zu 30 Tage zu inhaftieren, extensiv Gebrauch.

Bei Berücksichtigung, dass der EGMR eine Verletzung von Art. 3. EMRK schon bei einer Haftdauer von "lediglich" 15 Tagen angenommen hat (Entsch. v. 19.1.2012, a.a.O), ist bereits die Dauer der Inhaftierung als schwerwiegend anzusehen.

Ferner ist davon auszugehen, dass die Haftbedingungen den Bedürfnissen minderjähriger Kinder und ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit nicht hinreichend Rechnung tragen. So sind nach Pro Asyl die tatsächlich für Familien genutzten Hafteinrichtungen aufgrund folgender Punkte nicht für deren Unterbringung geeignet: Die Kinder besuchen keine Schule. Es werden keine sozialen oder pädagogischen Aktivitäten angeboten. Die Verpflegung wird kindlichen Bedürfnissen nicht gerecht, zudem sind nur wenige Spielsachen vorhanden. Insbesondere die Hafteinrichtung Debrecen ist ungeeignet für die Inhaftierung von Kindern, da sie nur über einen kleinen Außenbereich verfügt. Das bewaffnete Sicherheitspersonal wirkt einschüchternd auf Kinder (S. 6).

Diese Angaben werden durch den aida Bericht (a.a.O.) bestätigt. Danach wird derzeit vor allem das Inhaftierungszentrum in Debrecen für die Inhaftierung von Familien genutzt (S. 51), in dem die Haftunterbringungssituation für Familien mit Kindern ungeeignet ist. Es gibt keine sozialen oder erzieherischen Aktivitäten, das Essen ist nicht kindgerecht und die Kinder haben keine Spielsachen (S. 59). Die Ausstattung dort ist ungenügend. Aufenthalt unter freiem Himmel ist lediglich in einem kleinen Hof möglich, der aufgrund seiner Größe und seines Betonbodens keinen nennenswerten Aktivitäten zulässt. Hinzu kommt, dass weder Bänke noch schattenspendende Bäume oder andere Objekte vorhanden sind, so dass es in der Sommerhitze unmöglich sein dürfte, längere Zeit draußen zu verbringen (S. 60).

Neben der dargelegten - für Kinder wohl unzumutbaren - Haftdauer und Haftbedingungen ist davon auszugehen, dass die Haftsituation auf Kinder stark verängstigend wirkt. Die Haftanstalt Debrecen ist von einem hohen Zaun mit einschüchterndem Effekt umschlossen. Dieser Effekt wird durch die installierten Wachtürme verstärkt, die den Eindruck eines Hochsicherheitsgefängnisses erwecken (S. 61). Hinzu kommen die ständige Polizeipräsenz und der Umstand, dass die Polizeibeamten sichtbar mit Schlagstöcken, Handschellen und Pfefferspray ausgestattet sind, während sie ihren Dienst verrichten (S. 57).

Angesichts dieser Sachlage überwiegt das private Interesse der Antragsteller zu 2, 3 und 4, vorläufig nicht nach Ungarn rücküberstellt zu werden, das öffentliche Interesse der Antragsgegnerin an einer möglichst umgehenden Rückführung.

Ob auch dem Antragsteller zu 1 eine Inhaftierung in Ungarn nach Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK nicht zugemutet werden kann, kann dahinstehen. Denn unter Beachtung des Schutzgedankens des Art. 8 EMRK ist auch bei ihm derzeit ein überwiegendes Interesse an der Aussetzung der Rückführung nach Ungarn zu erkennen. [...]