Für eine alleinerziehende junge Frau aus der Volksgruppe der Roma, die seit ihrer frühen Kindheit in Deutschland lebt und über keine familiäre Unterstützung im Kosovo verfügt, besteht bei Abschiebung in den Kosovo aufgrund der für sie dort bestehenden schlechten humanitären Bedingungen auch ohne zielgerichtete Verursachung durch den Staat oder andere Akteure mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK.
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Gem. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylVfG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung droht. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG bildet dabei den Wortlaut von Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - nahezu unverändert nach. Dadurch soll die inhaltliche Orientierung an der EMRK für den subsidiären Schutz festgeschrieben werden, wodurch auch die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - zur Auslegung des Begriffs der unmenschlichen Behandlung übernommen werden sollte, ohne jedoch deckungsgleich zu sein (vgl. Hailbronner, AsylVfG, Loseblattsammlung, Stand: Juni 2014, § 4 Rn. 13 f.).
Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR muss die Behandlung ein - von den gesamten Umständen des Einzelfalles abhängiges - Mindestmaß an Schwere erreichen, um von Art. 3 EMRK erfasst zu werden (vgl. EGMR, Saadi/Italien, Urteil vom 28. Februar 2008 - 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330, und M.S.S./Belgien und Griechenland, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/06 -, NVwZ 2011, 413). Bei der Entscheidung darüber, ob im Falle einer Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, müssen die absehbaren Folgen unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage im Bestimmungsland und der besonderen Umstände des Betroffenen geprüft werden. Eine Abschiebung kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK dabei nur begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer nach dem obigen Maßstab Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden ("real risk"; vgl. EGMR, Saadi/Italien, a.a.O.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris, unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - Rn. 22 nach Juris, zu § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 15 lit. b QRL; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Juli 2013 - A 11 S 697/13 -, Rn. 75 nach juris).
Schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsland, in das abgeschoben werden soll, können nur unter besonderen Voraussetzungen ausnahmsweise als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein. Der EGMR hat in seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich - 8319/07, 11449/07, 8319/07, 11449/07 -, NVWZ 2012, 681) hierzu dargelegt, unter welchen Voraussetzungen es hinsichtlich der erforderlichen Intensität der Gefahren aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse bei den Maßstäben des Urteils N./Vereinigtes Königreich (Urteil vom 27. Mal 2008 - 26565/05 -, NVwZ 2008, 1334) bleibt, nach dem der Umstand, dass im Fall der Abschiebung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt werde, allein nicht ausreiche einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen, und wann die Grundsätze des Urteils M.S.S./Belgien und Griechenland (a.a.O., Rn. 251, 259) Anwendung finden, in dem der EGMR ausgeführt hat, dass die (den belgischen Behörden bekannte) Auslieferung der von staatlicher Unterstützung in besonderer Weise abhängigen Gruppe der Asylbewerber an einer Situation "äußerster materieller Armut" und Hilflosigkeit in einer fremden Umgebung einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstelle.
Danach könne, wenn die schlechten humanitären Bedingungen im Zielstaat (dort: in Somalia) nur oder zumindest überwiegend auf die Armut zurückzuführen sind oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen, wie einer Dürre, das im Fall N./Vereinigtes Königreich (a.a.O.) verwendete Kriterium angemessen sein. Gehe aber die humanitäre Krise überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurück, sei das im Urteil M.S.S./Belgien und Griechenland (a.a.O.) verwendete Kriterium besser geeignet (EGMR, Sufi u. EImi/Vereinigtes Königreich, a.a.O.). Sind die schlechten humanitären Bedingungen ganz oder überwiegend auf staatliches Handeln bzw. im Falle des bewaffneten Konflikts auf Handlungen Dritter zurückzuführen, die dem Staat mangels ausreichenden Schutzes zurechenbar sind, sind danach für die Beurteilung der Intensität der "Behandlung" bei einem Schutzsuchenden, der völlig abhängig von staatlicher Unterstützung ist, maßgeblich die Fähigkeit, im Zielgebiet seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu decken, seine Verletzlichkeit durch Misshandlungen und die Aussicht auf Verbesserung innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens (EGMR, M.S.S./Belgien und Griechenland - und Sufi u. EImi/Vereinigtes Königreich, jeweils a.a.O.).
Sind dagegen - wie hier - die schlechten humanitären Verhältnisse weder dem Staat noch (im Falle eines bewaffneten Konflikts) den Dritten zuzurechnen, fehlt es an einer absichtlichen, zielgerichteten Maßnahme. Die bloße Verursachung schlechter wirtschaftlicher oder humanitärer allgemeiner Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung begründet grundsätzlich noch keine "Behandlung" i.S.d. Art. 3 EMRK, wenn keine Verfolgung im Sinne der absichtlichen Schadenszufügung festgestellt werden kann (Hailbronner, a.a.O., § 4 Rn. 41).
Gleichwohl können diese nach der Rechtsprechung des EGMR "in äußerst extremen Fällen" schlechte humanitäre Lebensbedingungen auch ohne aktives Zutun des Staates oder Dritter im Hinblick auf Art. 3 EMRK als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein (Hailbronner, a.a.O., § 4 Rn. 37,42). Der EGMR hat im Fall "D./Vereinigtes Königreich, Urteil vom 2. Mai 1997 -146/1996/767/964 -, NVwZ 1998. 161, Rn. 52) eine unmenschliche Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK zugunsten eines im fortgeschrittenen, tödlichen und unheilbaren Stadium an Aids erkrankten drogensüchtigen Ausländers angenommen, weil die Abschiebung seinen Tod beschleunigen würde, er keine angemessene Behandlung erreichen könne und kein Beweis für irgendeine mögliche moralische oder soziale Unterstützung im Herkunfts- und Zielgebiet zu erbringen sei. Der Umstand, dass im Fall der Abschiebung in sein Herkunftsgebiet die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt wird, reicht demgemäß allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Der EGMR hat in späteren Entscheidungen ("Bensaid/ Vereinigtes Königreich, Urteil vom 6. Februar 2001 - 44599/98 -, NVWZ 2002, 453 und N./Vereinigtes Königreich", Urteil vom 27. Mai 2008 - 26565/05 -, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42) klargestellt, dass es insoweit besonderer "exzeptioneller Umstände" bedarf.
Diese Differenzierung der Prüfungsmaßstäbe hat auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung im Einzelnen nachvollzogen. Es hat weiterhin die Voraussetzungen des Maßstabs der Entscheidung M.S.S./Belgien und Griechenland (a.a.O) jedenfalls dann nicht als erfüllt angesehen, wenn eine extreme Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zu verneinen war (vgl. Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 28 und 36). Mit dieser Entscheidung, auf die sich auch die Beklagte in dem Abänderungsbescheid vom 24. April 2015 bezogen hat, hat das Bundesverwaltungsgericht die vorhergehende Entscheidung des VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 27. April 2012 - A 11 S 3079/11 -, juris) mangels hinreichender tatrichterlicher Feststellungen aufgehoben und zur erneuten Entscheidung dorthin zurückverwiesen.
Im Einzelfall der Klägerin ist davon auszugehen, dass ein Ausnahmefall vorliegt, in dem im Falle einer Abschiebung in den Kosovo aufgrund der für sie dort in ihrer konkreten Situation bestehenden schlechten humanitären Bedingungen auch ohne zielgerichtete Verursachung durch den Staat oder andere Akteure mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bestünde.
Für diese Annahme spricht das Zusammentreten mehrerer Faktoren, die für sie die Schaffung und Erhaltung einer Existenzgrundlage ausschließen. Die Klägerin ist nicht nur dem Volke der Roma zugehörig, was für sich genommen bereits - auch unter Hinweis auf die entsprechenden Ausführungen im Bericht des Auswärtigen Amtes vom 25. November 2014 über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo (dort Seite 13) schwierige Lebensbedingungen und einen nur eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt bedeutet, sondern hat auch ein 3-jähriges Kind, für dessen Wohl und Wehe sie zu sorgen hat, ohne dass sie über familiäre oder verwandtschaftliche Unterstützung im Kosovo verfügt. Zudem hat sie - bis auf ihre ersten beiden Lebensjahre - ihr gesamtes Leben in der Bundesrepublik Deutschland verbracht, so dass sie mit der im Kosovo herrschenden Lebenssituation und dem dortigen Kulturkreis kaum vertraut sein dürfte. Unter diesen Umständen erscheint es beinahe als ausgeschlossen, dass sie - zumal als erst 24-jährige Frau - in der Lage sein wird, sich im Kosovo zurecht zu finden und dort eine Existenzgrundlage für sich und ihren Sohn aufbauen zu können. Hiervon geht letztlich auch das Bundesamt aus, das als Begründung für die nachträgliche Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG insbesondere darauf abgestellt hat, dass "unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Antragstellerin Mutter eines Kleinkindes ist, (...) nicht davon ausgegangen werden (kann), dass sie in der Lage wäre, für sich und ihr Kind Im Kosovo eine Existenzgrundlage zu schaffen".
Vor diesem Hintergrund erschließt sich die im Änderungsbescheid vorgenommene Differenzierung, mit das Bundesamt einerseits die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK abgelehnt, andererseits aber die außergewöhnliche Erhöhung der Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen hat, nicht. [...]