VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 19.03.2002 - 12 K 8/00.A - asyl.net: M2294
https://www.asyl.net/rsdb/M2294
Leitsatz:

Inländische Fluchtalternative für tschetschenische Volkszugehörige ist jedenfalls in mehrheitlich von Menschen kaukasischer Herkunft bewohnten Gebieten der Russischen Föderation gegeben; Staat bietet ausreichenden Schutz vor Verfolgung durch tschetschenische Kräfte; keine extreme Gefährdungslage gem. § 53 Abs. 6 AuslG(Leitsatz der Redaktion)

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Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Bürgerkrieg, Familienangehörige, Ehemann, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Inguschetien, Dagestan, Diskriminierung, Übergriffe, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Registrierung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Extreme Gefahrenlage
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Den Klägerinnen zu 1) und 3) steht kein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG zu. Soweit sich die Klägerin zu 1) darauf beruft, ihr Ehemann und Vater der Klägerin zu 2) und 3) sei vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation aufgrund seiner Tätigkeit als Privatfahrer für den russischen Polizeichef in Grosny in der Zeit von (...) von den Tschetschenen verfolgt worden, vermag dies die Annahme einer Vorverfolgung schon deshalb nicht zu begründen, weil es sich insoweit um Verfolgungsmaßnahmen von dritter Seite handelte, die dem russischen Staat auch nicht unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren Verfolgung zugerechnet werden können. Denn es kann keinen vernünftigen Zweifeln unterliegen, dass jener willens und in der Lage war, seinen Staatsangehörigen jedenfalls in weiten Teilen des eigenen Staatsgebietes Schutz vor Verfolgung durch tschetschenische Kräfte zu gewähren und eine solche außerhalb Tschetscheniens nicht tatenlos hinnehmen würde.

Die Klägerinnen zu 1) bis 3} mußten vor Verlassen ihres Heimatlandes aber auch keine landesweite politische Verfolgung von Seiten des russischen Staates selbst in Anknüpfung allein an ihre tschetschenische Volkszugehörigkeit befürchten. Es unterliegt bereits rechtlichen Bedenken, ob bei Anlegung der hierfür nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts konkretisierten Maßstäbe (vgl. hierzu Urteile vom 05.07.1994 -9 C 158.94-, DVBl. 1994, 1409 und vom 15.05.1990 -9 C 17.89-, BVerwGE 85, 139) davon ausgegangen werden kann, dass tschetschenische Volkszugehörige zum Zeitpunkt der Flucht der Klägerinnen zu 1) bis 3) aus Tschetschenien im (...). dort einer -regionalen- mittelbaren oder unmittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt waren. Der mit großer Härte und Brutalität geführte Militäreinsatz zur Bekämpfung des bewaffneten Widerstandes in Tschetschenien richtete sich dabei verstärkt auch gegen große Teile der Zivilbevölkerung, die zunehmend menschenrechtswidrigen Übergriffen wie Mißhandlungen, Vergewaltigungen, Verschleppungen und extralegalen Tötungen ausgesetzt waren. Indes waren hiervon erkennbar nicht lediglich tschetschenische Volkszugehörige, sondern ausnahmslos die gesamte Zivilbevölkerung Tschetscheniens ungeachtet ihrer jeweiligen Volkszugehörigkeit betroffen.

Letztlich kann die Frage, ob das gewaltsame Vorgehen russischer Truppen in Tschetschenien die Annahme einer alle tschetschenischen Volkszugehörigen erfassenden gruppengerichteten Verfolgung rechtfertigt, aber dahingestellt bleiben. Denn eine solche Annahme scheitert bereits daran, dass den Klägerinnen zu 1) bis 3) schon zum Zeitpunkt ihrer Flucht aus Tschetschenien eine inländische Fluchtalternative offen stand. Die Klägerinnen zu 1) bis 3) waren nämlich in anderen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens - namentlich in Inguschetien und Dagestan - vor an ihre tschetschenische Volkszugehörigkeit anknüpfenden staatlichen Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher und ihnen drohten dort auch keine sonstigen unzumutbaren Gefahren und Nachteile, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden. Zwar besteht zwischen Bevölkerungsteilen kaukasischer Herkunft, zu denen auch die Tschetschenen zählen, und ethnischen Russen in der Russischen Föderation vielerorts ein distanziertes und angespanntes Verhältnis. Auch verkennt die Kammer bei ihrer Einschätzung nicht, dass in der Praxis kaukasische Minderheiten in überwiegend russisch besiedelten Gebieten der Russischen Föderation faktisch benachteiligt werden sowie insbesondere auch im Zusammenhang mit mehreren Bombenattentaten auf Wohnhäuser in russischen Großstädten im Herbst 1999, die tschetschenischen Rebellen zugeschrieben wurden, diskriminierenden Kontrollmaßnahmen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt waren, wobei verschiedene Zivilisten kaukasischer Herkunft mehrere Tage lang von der Polizei ohne Angabe von Gründen inhaftiert wurden; hierbei soll es auch zu Gewaltanwendungen durch russische Polizeikräfte gekommen sein. In der Folge fanden Wohnungsdurchsuchungen statt; die Betroffenen mußten sich neu registrieren lassen und wurden aus der Stadt verwiesen, sofern sie keine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen konnten. Indessen hat sich diese Vorgehensweise russischer Behörden gegen Personen kaukasischer Herkunft offenbar weitgehend auf das Gebiet Moskaus sowie weiterer russischer Großstädte beschränkt und kann schon von daher und ohne Rücksicht auf den erkennbar sicherheitspolitischen Hintergrund nicht auf sonstige Gebiete der Russischen Föderation übertragen werden. Das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative zum Zeitpunkt der Ausreise der Klägerinnen zu 1) bis 3) wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass insbesondere in den größeren Städten der Russischen Föderation, die wie etwa Moskau und St. Petersburg aufgrund ihrer wirtschaftlichen Entwicklung besonders attraktiv für Flüchtlinge sind, der Zuzug von aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation stammenden Personen ungeachtet des in Art. 27 der russischen Verfassung garantierten Rechts, seinen Aufenthalts- und Wohnort frei zu wählen, durch Verwaltungsvorschriften erschwert bzw. verhindert wird. Die Klägerinnen zu 1) bis 3) waren nämlich nicht gezwungen, ihren Aufenthaltsort in solchen Großstädten zu nehmen, sondern konnten sich auch dorthin begeben, wo Zuzugsbeschränkungen nicht praktiziert werden bzw. wo mehrheitlich Staatsangehörige der Russischen Föderation kaukasischer Herkunft leben.

Zu Recht hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 10.01.2000 im Weiteren auch das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG verneint. Dass die Klägerinnen zu 1) bis 3) bei einer Rückkehr in die Russische Föderation landesweit einer extremen Gefährdungslage ausgesetzt sein könnten, ist für die Kammer nicht erkennbar. Zwar hat der schwierige Prozess der Demokratisierung und des Wiederaufbaus einer funktionstüchtigen Wirtschaft in der Russischen Föderation in dem letzten Jahrzehnt zu einem ständig sinkenden Lebensstandard und einer angespannten sozialen Lage geführt. Gesundheits- und Bildungswesen liegen darnieder. Nach offiziellen Statistiken leben etwa 40 % der Menschen in der Russischen Föderation einkommensmäßig zum Teil erheblich unter dem Existenzminimum; etwa 50 Mio. Menschen leben unterhalb der staatlich definierten, landesdurchschnittlichen Armutsgrenze von etwa 100,-- DM monatlich (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.08.2001 a.a.O. sowie Auskunft an VG Stuttgart vom 30.06.2000 -514-516.80/36164-). Unabhängig vom Wohnort ist es diesen Menschen, gleich welcher Nationalität, aber möglich, in der Praxis ihren Lebensunterhalt auf verschiedene Weise, meist durch Hilfe von Freunden und Verwandten oder durch unterschiedliche Formen der sehr verbreiteten Schattenwirtschaft, zu sichern (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Stuttgart vom 30.06.2000 a.a.O.; ferner auch Auskunft an VG Augsburg vom 28.01.2000 -514-516.80/35229-, wonach das Existenzminimum für Staatsangehörige der Russischen Föderation auf dem allgemeinen sehr niedrigen Niveau der Sozialgesetzgebung der Russischen Föderation auch dann gesichert sei, sofern es nicht gelinge, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen). Dem entsprechend ist den der Kammer insgesamt zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen auch nicht zu entnehmen, dass abgeschobene Staatsangehörige der Russischen Föderation ohne Rücksicht auf ihre Volkszugehörigkeit in ihrem Heimatland wegen unzureichender Versorgung bereits lebensbedrohend gefährdet wären oder dies alsbald zu erwarten stünde.