LG Hildesheim

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Zitieren als:
LG Hildesheim, Beschluss vom 03.06.2015 - 5 T 112/15 - asyl.net: M22956
https://www.asyl.net/rsdb/M22956
Leitsatz:

Im Hinblick auf das Zustimmungserfordernis der Staatsanwaltschaft im Rahmen von § 72 Abs. 4 AufenthG kann nur die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen erklären.

Das Haftgericht muss prüfen, ob mildere Mittel eine Außervollzugsetzung des Haftbeschlusses erlauben.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Staatsanwaltschaft, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Verhältnismäßigkeit, Sicherungshaft, mildere Mittel, Anwendung milderer Mittel, Auflage, Haftbeschluss, Ermittlungsverfahren, Ausländerstrafrecht, örtliche Zuständigkeit, Zuständigkeit, Rückführungsrichtlinie, generelles Einvernehmen, Aufenthaltswechsel, Wechsel des Aufenthaltsortes, Hinweispflicht, Fluchtgefahr,
Normen: AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 72 Abs. 4, AufenthG § 95, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5, RL 2008/115/EG Art. 15 Abs. 1 S. 1 Bst. a, 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

1. Der Antrag des weiteren Beteiligten auf Anordnung der Sicherungshaft war unzulässig.

a) Gemäß § 417 Abs. 2 Nr. 5 FamFG hat die zuständige Verwaltungsbehörde im Verfahren der Abschiebungshaft zur Begründung des Antrags auf Freiheitsentziehung u.a. Tatsachen zur Durchführbarkeit der Abschiebung darzulegen. Ergibt sich aus den Akten, dass gegen den Betroffenen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist, muss die Behörde darstellen, dass die zuständige Staatsanwaltschaft die nach § 72 Abs. 4 S. 1 Aufenthaltsgesetz erforderliche Zustimmung zur Abschiebung das Betroffenen erteilt hat (BGH, Beschluss vom 29.09.2011 - V ZB 61/11 -; Beschluss vom 14.06.2012 - V ZB 32/12 - Keidel/Budde, FamFG, 18. Aufl., § 417 Rn. 23).

b) Den Akten, nämlich der Festnahmeanzeige vom 08.05.2015, ist zu entnehmen, dass gegen den Betroffenen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist. Ausweislich der Festnahmeanzeige erfolgte die Festnahme des Betroffenen wegen Verdachts der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts Im Bundesgebiet. Damit bestand aus Sicht der die Festnahme ausführenden Beamten der Verdacht einer Straftat gegen § 95 Abs. 1 oder 2 Aufenthaltsgesetz. Die. Beamten waren daher berechtigt und verpflichtet, insoweit ein Ermittlungsverfahren einzuleiten (§ 163 Abs. 1 StPO; vgl. zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens Fischer, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl., Einleitung Rn. 171 und 175; Griesbaum, a.a.O., § 160 Rn. 14).

Da dem weiteren Beteiligten bekannt war, unter welchen Umständen der Betroffene vorläufig festgenommen worden war, war ihm auch bekannt, dass gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war. Der weitere Beteiligte war daher verpflichtet, in dem Haftantrag zu den Voraussetzungen des § 72 Abs. 4 S. 1 Aufenthaltsgesetz Stellung zu nehmen. Dieser Verpflichtung war sich der weitere Beteiligte auch bewusst; denn im vorletzten Absatz des Antrags (vgl. Blatt 3 der Akte) teilt der weitere Beteiligte mit, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit Schreiben vom 04.09.2013 ihr generelles Einvernehmen zur Ausweisung und Abschiebung erklärt habe. Auf das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Braunschweig kommt es indessen nicht an. Da der Betroffene im Bezirk des Amtsgerichts Hildesheim festgenommen wurde, wird das gegen ihn eingeleitete Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft Hildesheim geführt. Folglich kann nur diese Staatsanwaltschaft das Einvernehmen nach § 72 Abs. 4 S. 1 Aufenthaltsgesetz erteilen. Der weitere Beteiligte hätte mithin vor Antragstellung bei der Staatsanwaltschaft Hildesheim Nachfrage haften müssen, ob bei Verstößen gegen § 95 Aufenthaltsgesetz ein generelles Einvernehmen zur Ausweisung und Abschiebung erklärt worden ist. Ferner hätte der weitere Beteiligte die Antwort der Staatsanwaltschaft in der Antragsschrift mitteilen müssen. Das ist nicht geschehen.

c) Ein Antrag, der keine oder falsche Angaben zu den Voraussetzungen des § 72 Abs. 4 S. 1 Aufenthaltsgesetz enthält, ist unzulässig (BGH, Beschluss vom 14.06.2012 - V ZB 32/12 - Rn. 9). Ein unzulässiger, weil die formellen Voraussetzungen des § 417 Abs. 2 FamFG nicht erfüllender Antrag kann nicht Grundlage einer Freiheitsentziehung sein. Eine aufgrund eines unzulässigen Antrags angeordnete Haft ist rechtswidrig (Keidel/Budde, a.a.O., Rn. 12):

2. Nach Ansicht der Kammer waren die Anordnung der Sicherungshaft und deren Vollzug auch deshalb rechtswidrig, weil diese Maßnahmen weder in § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz noch in Nr. 5 dieser Vorschrift - andere Haftgründe scheiden von vornherein aus - ihre Rechtsgrundlage haben.

a) Ein Haftgrund nach § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz ist gegeben, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird. Wegen dieser einschneidenden Folgen muss die Ausländerbehörde in der Regel auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hinweisen (BGH, Beschluss vom 19.05.2011 - V ZB 36/11 - Rn.10).

Der Betroffene verließ zwar seinen Aufenthaltsort im Bundesgebiet, d.h. seinen Wohnsitz in ..., ohne dem weiteren Beteiligten eine Anschrift mitzuteilen, unter der er erreichbar war. Es lässt sich indessen nicht feststellen, dass der Betroffene auf die mit dem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hingewiesen worden war. Ein entsprechender Hinweis ist insbesondere weder dem Bescheid vom 29.06.2011 (Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis) noch der Verfügung vom 02.02.2012 (Aufforderung zur Ausreise) zu entnehmen.

b) Auch auf § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 Aufenthaftsgesetz kann die Anordnung der Sicherungshaft nicht gestützt werden. Diese Vorschrift entspricht nicht den Anforderungen von Art. 3 Nr. 7 und Art. 15 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie 2008/115/EG zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger.

Gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 1 lit. a) der Richtlinie dürfen Mitgliedsstaaten Drittstaatsangehörige nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, wenn Fluchtgefahr besteht. Der Begriff der Fluchtgefahr wird in Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie definiert. Danach setzt Fluchtgefahr das Vorliegen von Gründen im Einzelfall voraus, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich der Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnte. Diesen Anforderungen genügt der generalklauselartig formulierte Haftgrund 4 in § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 Aufenthaltsgesetz nicht. Die Vorschrift benennt nicht die Kriterien, die den Verdacht begründen, der Ausländer wolle sich der Abschiebung entziehen. Diese Kriterien sind nicht im Gesetz festgelegt, sondern erst durch die Rechtsprechung bestimmt worden (vgl. BGH, Beschluss vom 26.06.2014 - V ZB 31/14 - Rn. 23 zu der vom BGH zu Recht verneinten Frage, ob § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 Aufenthaltsgesetz den Anforderungen von Art. 2 lit. a) der Dublin-III-Verordnung genügt).

3. Der angefochtene Beschluss ist schließlich auch deshalb rechtswidrig, weil er gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Sicherungshaft darf zum einen nur dann angeordnet werden, wenn einer der in § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 bis 4 Aufenthaltsgesetz aufgeführten Gründe gegeben ist. Zum andern darf der Zweck der Sicherungshaft nicht auf andere Weise, nämlich durch Anwendung milderer Mittel, zu erreichen sein. So kann es etwa ausreichen, die Sicherungshaft zwar anzuordnen, deren Vollzug aber gegen geeignete Auflagen auszusetzen (vergleiche § 424 Abs. 1 S. 1 FamFG).

Das Amtsgericht hätte daher bei seiner Entscheidung prüfen müssen, ob die Vollziehung der Sicherungshaft gegen Erfüllung von Auflagen auszusetzen war. Zu dieser Prüfung bestand insbesondere deshalb Anlass, weil der Betroffene unter der Anschrift seiner Eltern in ... gemeldet und dort auch - soweit ersichtlich - wohnhaft war, bevor er das Bundesgebiet vorübergehend verließ. Er verfügte mithin über einen festen Wohnsitz. Der Ort seiner Festnahme ist - wie dargelegt - nur wenige Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Es spricht daher einiges dafür, dass der Betroffene entsprechend seinen Angaben bei der Anhörung vom 08.05.2015 (Blatt 33 der Akte) die Absicht hatte, zu seinen Eltern zurückzukehren. Das Amtsgericht hätte daher prüfen müssen, ob die Vollziehung der Sicherungshaft unter der Auflage auszusetzen war, dass der Betroffene wieder bei seinen Eltern in ... Wohnung zu nehmen hatte. Es hätte ferner anordnen können, dass der Betroffene sich zu bestimmten Zeiten bei der Ausländerbehörde des weiteren Beteiligten oder einer Polizeidienststelle zu melden hatte. Erst wenn der Betroffene diese Auflagen nicht erfüllt hätte, hätte der Vollzug der Sicherungshaft angeordnet werden dürfen. [...]