VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 09.06.2015 - 7 A 7278/13 - asyl.net: M23047
https://www.asyl.net/rsdb/M23047
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Annahme von Verfolgungsgefahr in Afghanistan aufgrund der Konversion zum Christentum.

Schlagwörter: Afghanistan, Christen, Glaubenswechsel, Konversion, Konvertiten, nichtstaatliche Verfolgung, politische Verfolgung, Apostasie, Religionsfreiheit, staatliche Verfolgung,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG, weil er im Falle der Rückkehr nach Afghanistan wegen seines erfolgten Übertritts zum christlichen Glauben mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wäre. Da sein Begehren, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt, bereits bei Anlegung dieses strengen Prognosemaßstabs Erfolg hat, braucht nicht abschließend entschieden zu werden, ob er Afghanistan oder den Iran schon aus begründeter Verfolgungsfurcht verlassen hat und ihm daher möglicherweise auch der herabgesenkte Maßstab zugutekommt.

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

Es ist in der Rechtsprechung geklärt, dass auch ein erst im Bundesgebiet vorgenommener Glaubenswechsel den Flüchtlingsschutz nach § 3 Abs. 1 AsylVfG begründen kann. Beruft sich der Schutzsuchende auf eine Verfolgungsgefährdung mit der Begründung, er sei in Deutschland zu einer in seinem Herkunftsland bekämpften Religion übergetreten, muss er die inneren Beweggründe glaubhaft machen, die ihn zur Konversion veranlasst haben. Es muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel und nicht auf Opportunitätserwägungen beruht, und der Glaubenswechsel nunmehr die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 03.11.2014 - 13 A 1646/14.A -, juris). Wann eine solche Prägung anzuerkennen ist, lässt sich nicht allgemein beschreiben. Nach dem aus der Gesamtheit des Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahrens gewonnenen Eindruck muss sich der Schutzsuchende aus voller innerer Überzeugung von seinem bisherigen Bekenntnis gelöst und dem anderen Glauben zugewandt haben. Für die Frage, ob ein ernsthafter Glaubenswechsel vorliegt, kommt es entscheidend auf die Glaubhaftigkeit der Schilderung und die Glaubwürdigkeit der Person des Asylbewerbers an, die das Gericht selbst im Rahmen einer persönlichen Anhörung des Asylbewerbers zu überprüfen und tatrichterlich zu würdigen hat (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 16.09.2014 - 13 LA 93/14 -, juris).

Im Fall des Klägers ist der Einzelrichter aufgrund des unmittelbaren Eindrucks aus der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass seine Konversion auf einer glaubhaften Zuwendung zum christlichen Glauben im Sinne eines ernst gemeinten religiösen Einstellungswandels mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung und nicht lediglich auf bloßen Opportunitätsgründen beruht. Allerdings legt der Zeitpunkt der Taufe es nahe, dem Kläger asyltaktische Beweggründe vorzuhalten; der Kläger reiste im Mai 2012 ein, wurde nach seinem Aufenthalt in Friedland im Oktober 2012 nach ... verteilt und bereits im November 2012 in ... getauft. Die im Verwaltungsverfahren vorgelegte Bescheinigung der evangelisch-lutherischen ... Gemeinde ... vom 22.01.2013, wonach der Kläger seit einem Jahr regelmäßig an den Gottesdiensten dieser Gemeinde teilnehme, ist vor diesem Hintergrund irritierend. Gleichwohl kann dem Kläger geglaubt werden, dass er schon früh nach seiner Ankunft in den Wunsch verspürte, sich ernsthaft mit dem christlichen Glauben zu befassen. Bei seiner Anhörung hat er dem Gericht erläutert, dass er sich nirgendwo zuvor so wohl gefühlt habe, wie in der Kirchengemeinde in ..., wo er - im Gegensatz zu seinen Erfahrungen in der islamischen Heimat - Freundlichkeit und friedliches Miteinander erlebt habe. Der Kläger hat aus eigenem Antrieb den Wunsch geäußert, am Konfirmandenunterricht teilzunehmen und ist im Mai 2015 konfirmiert worden. Dies zeigt, dass er seinen christlichen Glauben in Gemeinschaft leben will. Regelmäßiger Besuch der Gottesdienste und Mitarbeit in der Gemeinde sind seit der Taufe wiederholt belegt. Bestätigt wird dieser Eindruck durch die Aussagen der Pastorin ... im Rahmen ihrer Vernehmung in der mündlichen Verhandlung, die den Konfirmandenunterricht geleitet und aufgrund ihrer Gespräche mit dem Kläger den Eindruck gewonnen hat, dass dessen Entschluss, zum christlichen Glauben überzutreten, nicht von asyltaktischen Erwägungen getragen ist, sondern sich als ernsthaft gereifter Entschluss darstellt, sein Leben nach den Geboten Jesus Christus auszurichten. Die Zeugin machte dies auch an dem Willen des Klägers fest, in die Jugendgruppenarbeit der Gemeinde einzusteigen und zukünftig als Helfer bei Konfirmandenfreizeiten mitzuwirken. Zudem betonte sie, dass der Kläger zwar mittlerweile eine eigene Wohnung außerhalb ihres Gemeindegebietes bezogen habe, aber nach wie vor in dieser Gemeinde mitarbeiten wolle und sich deshalb habe umpfarren lassen.

Nach ständiger Rechtsprechung der Kammer führt der ernsthafte Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben bei Rückkehr nach Afghanistan zu Verfolgung. Hierzu ist zuletzt mit Urteil vom 28.01.2015 - 7 A 2752/13 - ausgeführt worden:

Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen ergibt sich hinsichtlich der Verfolgungsgefährdung in Afghanistan bei Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben folgendes Bild:

Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts machen andere als muslimische Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus und Christen nicht mehr als 1 % der Bevölkerung aus. Art. 2 der Afghanischen Verfassung bestimmt, dass der Islam Staatsreligion ist. Die ebenfalls in der Verfassung verankerte Religionsfreiheit gilt ausdrücklich nur für die Anhänger anderer Religionen als dem Islam. Demnach besteht Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionswahl beinhaltet, für Muslime nicht. Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens. Konversion wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Repressionen gegen Konvertiten in städtischen Gebieten sind wegen der größeren Anonymität weniger zu befürchten als in Dorfgemeinschaften.

Nach der UN-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom Juli 2009 (zusammenfassende Übersetzung) gehören Konvertiten zu Personen mit besonderem Schutzbedarf. Hiernach ist die Konversion vom Islam zum Christentum in der afghanischen Verfassung nicht erwähnt. Diese fordert zwar Respekt für Menschenrechte und Grundfreiheiten, bezüglich der in der Verfassung nicht explizit geregelten Themen verweist sie allerdings auf die Vorschriften der Scharia. Einige Interpretationen der Scharia sehen die Konversion vom Islam als Apostasie an und bedrohen sie mit der Todesstrafe. Widerruft ein afghanischer Konvertit den Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion nicht innerhalb von drei Tagen, droht ihm die Todesstrafe durch den Strang. Die Konvertiten werden oft von ihren Familien und anderen traditionellen Strukturen als Quelle der Schande und der Scham empfunden. Verweigert der Konvertit den Widerruf, so setzt er sich Bedrohungen, Einschüchterungen und in einigen Fällen schwerwiegenden Körperverletzungen seitens der Familie oder der Mitglieder der Gemeinschaft aus. Als Folge sind die Konvertiten gezwungen, ihren Glauben zu verheimlichen, und daran gehindert, diesen öffentlich auszuüben.

Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) erläutert in ihrem Bericht "Situation christlicher Konvertiten in Afghanistan" vom 27. Februar 2008, dass Afghanen, deren Abwendung vom Islam entdeckt wird, in ihrer Heimat mit erheblicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Gleichzeitig besteht hiernach eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure. Für Konvertiten ist die Aufrechterhaltung eines religiösen Existenzminimums auch im privaten Bereich ausgeschlossen. Um der Entdeckung zu entgegen, sind Konvertiten gezwungen, ihren Glauben zu verleugnen und regelmäßig an islamischen Riten teilzunehmen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative existiert nicht. Entdeckten Konvertiten droht in Afghanistan die Ermordung durch Angehörige der eigenen Familie, der eigenen Clans und durch Angehörige extremistischer islamischer Gruppen. Wird in Afghanistan die Abkehr eines Moslems von seinem bisherigen Glauben den Behörden bekannt, drohen dem Betroffenen mit erheblicher Wahrscheinlichkeit Verhaftung, Misshandlung und extralegale Hinrichtung oder förmliche Verurteilung zum Tod.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet unter dem Titel "Afghanistan update: Aktuelle Entwicklungen" vom 21. August 2008, dass Konversion in Afghanistan als Blasphemie betrachtet und mit der Todesstrafe bestraft wird. Gleiches ergibt sich aus dem entsprechenden Bericht vom 23. August 2011, wonach Konvertiten sozial isoliert und selbst von der Familie unter Druck gesetzt oder ausgestoßen werden.

Auch amnesty international berichtet im AI-Report 2011 Afghanistan, dass Personen, die zu einer anderen Religion konvertieren, von der afghanischen Justiz verfolgt werden.

All dies macht deutlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan - auch in den Großraum Kabul - einer Verfolgung sowohl durch staatliche Behörden als auch durch nichtstaatliche Akteure, hier insbesondere durch die Zugehörigen der eigenen sozialen Gruppe, ausgesetzt wäre. Damit kann ihm derzeit eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zugemutet werden, weil er aufgrund des Abfalls vom moslemischen und der Hinwendung zum christlichen Glauben mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten muss, schwerwiegenden Ein- und Übergriffen auf seine körperliche Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dies hat zur Folge, dass das Bundesamt zur Feststellung zu verpflichten ist, dass bei dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gegeben ist. Der streitgegenständliche Bescheid ist daher insoweit aufzuheben, als er dieser Verpflichtung entgegensteht.

Dies gilt auch im Falle des Klägers. In Afghanistan ist es tatsächlich zu Verhaftungen von Konvertiten gekommen (Internet: open Doors vom 17.12.2010 und vom 9.3.2012). Die religiöse Stimmung ist derartig "aufgeheizt", dass im März 2015 eine Frau wegen angeblicher Koranverbrennung auf offener Straße gelyncht wurde (Internet: SPIEGEL online vom 30.3.2015; T-Online vom 23.3.2015). Religiöse Toleranz besteht bereits bei einem nur gerüchteweise vernommenen Abfall vom Islam nicht. Vielmehr droht die Verfolgung der Apostasie und Konversion in Afghanistan landesweit. [...]