VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 16.07.2015 - 3 K 3120/14.A - asyl.net: M23071
https://www.asyl.net/rsdb/M23071
Leitsatz:

In Ungarn werden auch asylsuchende Kinder mit ihren Familien inhaftiert. Bei einer geplanten Überstellung von Familien mit Kindern nach Ungarn obliegt es daher den überstellenden Behörden, konkrete Absprachen zu treffen, um eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu vermeiden.

Schlagwörter: Ungarn, Kinder, Kleinkinder, besonders schutzbedürftig, Zusicherung, Tarakhel, Inhaftierung, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Dublinverfahren,
Normen: GR-Charta Art. 4, AsylVfG § 26a, AsylVfG § 34a, AsylVfG § 27a,
Auszüge:

[...]

Es kann deshalb dahinstehen, ob der Umstand, dass das ungarische Asylrecht seit der Rechtsänderung vom 01.07.2013 wieder Inhaftierungsgründe für Ungarn enthält und Ungarn diese neuen Inhaftierungsvorschriften auch tatsächlich anwendet, für sich genommen Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer Mängel bietet (vgl. dazu etwa: VG Berlin, Beschluss vom 15.01.2015 - VG 23 L 899.14 -, juris; VG Minden, Beschluss vom 09.03.2015 - 1 L 54/15.A -).

Für asylsuchende Familien hat sich nach dem Bericht von AIDA vom 04.11.2014 die Situation jedenfalls verschärft. Danach werden seit September 2014 auch Familien mit Kindern in Ungarn inhaftiert. In der Stellungnahme wird darauf hingewiesen, dass die Haftbedingungen für die Unterbringung von Kindern nicht geeignet sind, und dass die Unterbringung von Kindern in den Anstalten das Wohl der Kinder gefährdet.

Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. Urteil vom 4.11.2014 - Tarakhel gegen die Schweiz, Nr. 29217/12 (Große Kammer) - Asylmagazin 12/2014, S. 424 ff.) genießen Kinder besonderen Schutz, da sie spezifische Bedürfnisse haben und extrem verletzlich sind. Dies gilt unabhängig davon, ob sie allein oder in Begleitung ihrer Eltern sind. Die Aufnahmebedingungen für asylsuchende Kinder müssen ihrem Alter und ihren Bedürfnissen angepasst sein. Eine Obergrenze des Alters der (minderjährigen) Kinder legt der EGMR in seiner Entscheidung nicht fest. Zu diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis zählen die Kläger. Die Klägerin zu 3. ist am 14.04.2013 geboren.

Liegen aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsorganisationen - wie hier - oder des Auswärtigen Amtes belastbare Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass im Falle einer Überstellung in einen an sich sicheren Drittstaat die Ausländer dort Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCH ausgesetzt zu sein, hat die für die Abschiebung zuständige Behörde dem angemessen Rechnung zu tragen.

Eine Rückführung setzt deshalb voraus, dass im Falle einer Überstellung festgestellte, an sich bestehende Mängel durch konkrete Absprachen zwischen dem für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen deutschen und den Behörden des Aufnahmestaates in einer Weise kompensiert werden können, dass eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung vermieden werden kann (vgl. dazu: EGMR, Urteil vom 04.11.2014, a.a.O.; BVerfG, Beschluss vom 17.09.2014 - 2 BvR 939/14 -, NVwZ 2014, 1511 und VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014, a.a.O.).

Im Hinblick auf den Schutz der Kinder obliegt es den überstellenden Behörden insbesondere, Zusicherungen einzuholen, dass die Asylbewerber in Einrichtungen und Bedingungen aufgenommen werden, die dem Alter der Kinder angemessen sind und dass sie als Familie zusammen bleiben können (vgl. EGMR, Urteil vom 04.11.2014, a.a.O.).

Daran fehlt es hier vollständig. Es ist von der Beklagten weder vorgetragen noch aus den Verwaltungsvorgängen nur ansatzweise ersichtlich, dass die Beklagte entsprechend notwendige Abreden mit den ungarischen Behörden getroffen hat. [...]