VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 26.04.2002 - 9 UE 915/98.A - asyl.net: M2309
https://www.asyl.net/rsdb/M2309
Leitsatz:

1. Alle Personen mit mindestens einem eritreisch-stämmigen Elternteil besitzen nach Art. 3 der Verfassung der seit 1993 unabhängigen Republik Eritrea die eritreische Staatsangehörigkeit. Diese Personen sind jedenfalls seit Ausbruch des eritreisch-äthiopischen Grenzkrieges im Mai 1998 nicht mehr (zugleich) äthiopische Staatsangehörige.

2. Einfache, in der Bundesrepublik lebende Mitglieder der ELF oder einer ihrer "Massenorganisationen" haben bei einer Rückkehr nach Eritrea wegen ihrer Mitgliedschaft oder wegen gewöhnlicher Aktivitäten, wie z. B. dem Verteilen von Flugblättern, Wahrnehmung organisatorischer Aufgaben anlässlich von exilpolitischen Treffen der ELF oder der bloßen Teilnahme an solchen Veranstaltungen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen.

3. Fall eines Eritreers, der sich als Mitglied der in Eritrea nicht erlaubten eritreischen Oppositionspartei ELF-CL (Eritrean Liberation Front-Central Leaderchip) und Führungsmitglied in einer "Massenorganisation" der ELF-RC (hier: stellvertretender Vorsitzender der EDJU Frankfurt am Main) durch Leitung von öffentlichen Diskussionsveranstaltungen, Vortrag von Referaten auf solchen Veranstaltungen und ähnlichen Aktivitäten von gleichem Gewicht exponiert hat, und dem bei Rückkehr nach Eritrea mir beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung deshalb droht, weil die Regierungspartei PFDJ des Präsidenten Afewerki solche Personen wegen des Bündnisses der ELF-CL mit dem äthiopischen Kriegsgegner während des Grenzkrieges (1998 - 2000) als "Landesverräter" betrachtet.(Amtliche Leitsätze)

 

Schlagwörter: Eritrea, Äthiopien, Staatsangehörigkeit, ELF, Mitglieder, Haft, Folter, Freilassung, Bestechung, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, ELF-RC, EDJU, ELF, Flugblätter, Demonstrationen, Funktionäre, Überwachung im Aufnahmeland, Sudan (A), Verfolgungssicherheit
Normen: AsylVfG § 27; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

 

Unter Würdigung der Auskunftslage lässt sich nach Überzeugung des Senats jedenfalls nicht feststellen, dass die bloße Mitgliedschaft in der ELF-RC oder einer ihrer "Massenorganisationen" asylrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen seitens der Sicherheitsorgane in Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zur Folge hat. Übereinstimmend weisen die Auskunft gebenden Stellen darauf hin, dass die Auswirkungen exilpolitischer Tätigkeit auf die Behandlung im Falle einer Rückkehr nach Eritrea differenziert betrachtet werden müssen. Gegen bloße Unterstützer oder Aktivisten von Oppositionsparteien, die sich auf unterer oder mittlerer Ebene, wie z. B. durch Verteilen von Flugblättern, Betreuung von Büchertischen oder Übernahme sonstiger organisatorischer Aufgaben anlässlich von exilpolitischen Treffen der ELF oder die bloße Teilnahme daran, betätigen, sind staatliche Maßnahmen bislang nicht bekannt geworden (AA, Auskunft vom 08. Juni 2001 an VG Kassel; amnesty international, Auskunft vom 18. Juli 2001 an VG Regensburg; Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 24. Januar 2002 an VG Darmstadt).

Indes steigt die Verfolgungsgefahr, je umfangreicher und exponierter sich die exilpolitischen Aktivitäten gestalten. Amnesty international hat bereits vor Jahren Fälle dokumentiert, in denen politische Gegner des Regimes des Präsidenten Afewerki kein rechtsstaatliches Verfahren erhalten haben, sonder incommunicado, ohne Anklageerhebung und auf unbestimmte Zeit an geheimen Orten gefangen gehalten worden sind (amnesty international, Auskunft vom 01. März 1996 an VG Ansbach). Verfolgungsmaßnahmen sind jedenfalls dann zu befürchten, wenn ein Mitglied der ELF für die eritreische Regierung als gefährlicher bzw. besonders hartnäckiger Oppositioneller oder Kritiker erscheint (AA, Auskünfte vom 02. Februar 2001 an VG Regensburg und vom 07. Februar 2001 an VG Kassel; amnesty international, Auskunft vom 18. Juli 2001 an VG Regensburg).

Die vorliegenden Auskünfte gehen im übrigen auch übereinstimmend davon aus, dass angesichts der relativ kleinen, überschaubaren Gruppe der Eritreer in der Bundesrepublik Deutschland dem eritreischen Staat bekannt ist, welcher Eritreer sich in welcher Form exilpolitisch engagiert. Bei der hier zu treffenden Prognose der Verfolgungsgefahr ist nach Auffassung des Senats entscheidend, dass sich die Aufmerksamkeit der Regierung in Eritrea insbesondere auf diejenigen richtet, die während des äthiopisch-eritreischen Krieges eine Allianz mit dem Kriegsgegner eingegangen sind. Diese gelten bei der derzeitigen Stimmung in Eritrea, die durch den hohen Verlust an Menschen und den wirtschaftlichen Niedergang geprägt ist, als Landesverräter und ihnen wird Zusammenarbeit mit dem Feind unterstellt. Als gesichert kann nämlich allen Auskünften entnommen werden, dass sich das innenpolitische Klima in Eritrea nach Beendigung des äthiopisch-eritreischen Grenzkrieges verschärft hat. Kritiker aus dem Regierungslager, die sich kritisch gegenüber dem Staatspräsidenten geäußert und ihm vorgeworfen haben, er übe seine Macht nicht verfassungsgemäß, sondern illegal aus, wurden ihres Postens enthoben, elf von ihnen wurden inhaftiert und befinden sich seitdem ohne Gerichtsverfahren in Haft. Auch der Präsident des Obersten Gerichtshofs wurde wegen kritischer Äußerungen seines Postens enthoben (amnesty international, Auskunft vom 19. September 2001 an BayVGH). Insgesamt geht die eritreische Regierung verschärft gegen kritische Stimmen vor, was auch das AA in seinem Lagebericht vom 14. Oktober 2001 darstellt, in dem es darauf hinweist, dass die eritreische Regierung in ihrem Bestreben um Machterhalt und Festigung ihrer Alleinherrschaft keinerlei Opposition dulde, Eritrea sich vielmehr anstelle der erhofften gesellschaftlichen und politischen Öffnung weiter in Richtung einer autoritären Einparteiendiktatur entwickle.

Nach alledem geht der Senat davon aus, dass der Kläger angesichts seiner oben dargestellten exilpolitischen Aktivitäten zu diesem gefährdeten Personenkreis gehört, denn er ist in der BRD seit (...) Mitglied der ELF-RC. Er gehört (...) der Ortsgruppe Frankfurt am Main der EDJU an, (...). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung sein stetiges Engagement für seine Organisation glaubhaft dargelegt. Aufgrund seiner Einlassungen ist der Senat davon überzeugt, dass es sich bei dem Kläger nicht lediglich um einen bloßen Mitläufer der ELF-RC handelt, sondern um eine Persönlichkeit, die sich die politischen Ideen der ELF-RC zu eigen gemacht hat und auf die er durch seine vielfältigen Aktivitäten aufmerksam machen will. Dies wird nicht nur durch seine Funktion als (...) der EDJU in Frankfurt am Main sondern darüber hinaus durch seine regelmäßige Teilnahme an Demonstrationen belegt, bei denen er Flugblätter verteilt, Transparente trägt und Parolen skandiert. Er ist auch in der Arbeit des (...) durch die ELF-RC in (...) gegründeten Clubs (...) eingebunden, der auch von Mitgliedern und Anhängern der eritreischen Regierungspartei PFDJ besucht wird. Dies wird von dem Kläger und seinen politischen Freunden geduldet, da sie glauben, auf diese Weise PFDJ-Anhänger für ihre politische Überzeugung gewinnen oder jedenfalls die lokalen PFDJ-Kreise unterwandern zu können. (...) Die herausgehobene Funktion des Klägers innerhalb seiner Organisation zeigt sich auch darin, dass er im (...) teilgenommen hat,(...). Als er am (...) von durch die eritreische Botschaft mit Namens- und Adresslisten ausgestatteten Landsleuten zu Hause aufgesucht und um Spenden für den Krieg mit Äthiopien gebeten worden ist, hat er dies unter Hinweis auf sein Engagement für die ELF abgelehnt. Ein weiteres Mal wurde der Kläger (...) von Parteigängern der PFDJ beschimpft und für den Fall der Rückkehr nach Eritrea mit dem Tode bedroht.