VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 28.07.2015 - 3 V 1123/15 (= ASYLMAGAZIN 12/2015, S. 438 ff.) - asyl.net: M23095
https://www.asyl.net/rsdb/M23095
Leitsatz:

Sofern nicht offensichtlich ist oder belastbare Nachweise/Angaben dafür vorliegen, dass die Angabe des Betroffenen, er sei minderjährig, unzutreffend ist, setzt die Feststellung des Alters regelmäßig eine zuverlässige Altersdiagnostik voraus.

Es obliegt zuvörderst den beteiligten Behörden, bei ernsthaften Zweifeln an der vom Betroffenen vorgetragenen Minderjährigkeit eine verlässliche Klärung des Alters des Betroffenen herbeizuführen.

Schlagwörter: Altersfeststellung, unbegleitete Minderjährige, Altersschätzung, Altersdiagnostik, minderjährig, Inobhutnahme, Augenschein, Inaugenscheinnahme, Muezzin,
Normen: SGB VIII § 42 Abs. 1, SGB VIII § 42 Abs. 1 Nr. 3, SGB VIII § 7 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

2. Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO hat die Klage gegen eine Beendigung einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO kann die Behörde in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse liegt, diese ausnahmsweise anordnen. Auf Antrag kann das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung wiederherstellen (§ 80 Abs. 5 VwGO). Das Verwaltungsgericht trifft hier eine eigene originäre Entscheidung, bei der es das private Interesse eines Antragstellers, jedenfalls bis zum Ausgang des Widerspruchsverfahrens und eines sich ggf. daran anschließenden gerichtlichen Verfahrens von der Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts verschont zu bleiben, mit dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Durchsetzung des Verwaltungsakts abwägen muss. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen Prüfung als offensichtlich rechtmäßig und liegt ein besonderes öffentliches Interesse für die Anordnung der sofortigen Vollziehung vor, so lehnt das Verwaltungsgericht in der Regel den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab. Ist der angefochtene Verwaltungsakt dagegen offensichtlich rechtswidrig, so ist dem Eilantrag eines Antragstellers regelmäßig stattzugeben. Kann aufgrund der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung nicht verlässlich festgestellt werden, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig oder rechtmäßig ist, so beschränkt sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle der Anordnung des Sofortvollzuges auf eine Interessenabwägung, bei der schon bei Gleichwertigkeit der öffentlichen und privaten Interessen regelmäßig die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen ist.

3. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hier stattzugeben. Die Erfolgsaussichten der Klage sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen und die Belange des Antragstellers überwiegen bei der vom Gericht zu treffenden Interessenabwägung.

a. Regelungsgegenstand des angefochtenen Bescheides vom 06.05.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2015 ist die Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes. Insoweit besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

b. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes handelt es sich bei einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X. DIe Entscheidung über die Inobhutnahme kann - wie hier geschehen - auch durch schlüssiges Handeln ergehen (vgl. Mann in Schellhorn u.a., SGB VIII; 4. Auflage, § 42 Rn. 35). Der Verwaltungsakt hat für den Adressaten sowohl belastende als auch begünstigende Wirkung. Verwaltungsakte mit einer derartigen Mischwirkung sind insgesamt als begünstigend zu behandeln und den strengeren Rücknahmevoraussetzungen des § 15 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 bis 4 SGB X unterworfen, sofern sich begünstigende und belastende Elemente - wie bei einer Inobhutnahme - nicht voneinander trennen lassen. Nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Abs. 4 SGB X kann der Leistungsträger einen rechtswidrigen Verwaltungsakt mit Mischwirkung ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurücknehmen, wenn der Begünstigte deswegen nicht auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertrauen durfte, weil dieser auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Die Rücknahme einer von Anfang an rechtswidrigen Inobhutnahme steht im Ermessen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Die Ermessensentscheidung erfordert eine sachgerechte Abwägung des öffentlichen Interesses an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände mit dem privaten Interesse des Adressaten an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander. Dies gilt auch, wenn eine Berufung auf Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X ausscheidet (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 - 5 C 24.12 -, Rn. 32-34, 41, juris).

c. Nach der Regelung des § 42 Abs. 1 SGB VIII sind Kinder und Jugendliche durch das Jugendamt in Obhut zu nehmen, wenn die gesetzlich bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind. Nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, einen ausländischen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn dieser unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Land aufhalten. Jugendlicher ist, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Voraussetzung für eine Inobhutnahme ist damit die Minderjährigkeit des Betroffenen; mithin ist eine Inobhutnahme rechtswidrig, wenn die in Obhut genommene Person bereits volljährig Ist,

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist unklar, ob von der Volljährigkeit des Antragstellers auszugehen ist.

Sofern nicht offensichtlich ist oder belastbare Nachweise/Angaben dafür vorliegen, dass die Angabe des Betroffenen, er sei minderjährig, unzutreffend ist, setzt die Feststellung des Alters regelmäßig eine zuverlässige Altersdiagnostik voraus (vgl. auch BayVGH, B. v. 23.09.2014 - 12 CE 14.1833 -, Rn. 21, juris). Es obliegt zuvorderst den beteiligten Behörden, bei deren ernsthaften Zweifeln an der vom Antragsteller vorgetragenen Minderjährigkeit eine verlässliche Klärung des Alters des Antragstellers herbeizuführen (vgl. VG München, B. v. 29.12.2014 - M 24 S 14.4788 -, Rn. 20, juris).

Eine Alterseinschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale stellt für sich genommen keine ausreichende Grundlage dar (BayVGH, B. v. 23.09.2014 - 12 CE 14.1833 -, Rn. 21; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 13.11.2014 - 12 B 1280/14 -, Rn. 19; VG München, B. v. 29.12.2014 - M 24 S 14.4798 -, Rn. 18, juris). Dies gilt auch dann, wenn sie durch Personal erfolgt, das in diesem Bereich erfahren ist (BayVGH, B. v. 23.09.2014 - 12 CE 14.1833 -, Rn. 21; OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 14.10.2009 - 6 S 33.09 -; VG München, B. v. 29.12.2014, M 24 S 14.4798, juris),

Eine zuverlässige Altersdiagnostik setzt vielmehr voraus, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse der körperlichen Untersuchung, gegebenenfalls auch einer Röntgenuntersuchung der Hand und der Schlüsselbeine sowie einer zahnärztlichen Untersuchung zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammengeführt werden. Ist von Röntgenuntersuchungen abzusehen (vgl. insoweit BayVGH, B. v. 23.09.2014 - 12 CE 14.1833 -, Rn. 21, wonach außerhalb von Strafverfahren keine juristische Legitimation für die Durchführung von Röntgenuntersuchungen vorliege; vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 13.11.2014 - 12 B 607/14 -, Rn. 14; s. aber auch OVG Hamburg, B. v. 09.02.2011 - 4 Bs 9/11 -, Rn. 71; wonach die nach § 26 Abs. 1 Satz 1 Röntgenverordnung erforderliche gesetzliche Grundlage in § 62 SGB I gesehen wird; ebenso VG Göttingen, B. v. 16.12.2011 - 2 B 269/11 -, Rn. 26; kritisch hierzu AG Schöneberg, B. v. 23.05.2014, 86 F 106/14, Rn. 21) verbleiben gleichwohl geeignete Methoden medizinischer Altersdiagnostik (vgl. BayVGH, B. v. 23.09.2014 - 12 CE 14.1833 -, Rn. 21; OVG NW, B. v. 13.11.2014 - 12 B 1280/14 -, Rn. 26, juris). Allgemein wird dann eine körperliche Untersuchung mit Erfassung anthropometrischer Maße, der sexuellen Reifezeichen und möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen sowie eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus empfohlen (vgl. BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833 -, Rn. 21 mit weiterführender Rspr., juris).

Dass die medizinische Altersdiagnostik keine exakten Ergebnisse verspricht, liegt in der Natur der Sache und führt zu keiner anderen Beurteilung. Die Unsicherheiten sind aber nicht so weitreichend, dass Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis stehen und es aus Sicht des Betroffenen daher von vornherein unverhältnismäßig erschiene, entsprechende Untersuchungen auf sich zu nehmen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 13.11.2014 - 12 8 1280/14 -, Rn. 28, juris).

Hiervon ausgehend ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt zumindest offen, ob die Aufhebung der Inobhutnahme rechtmäßig oder rechtswidrig ist.

Im Fall des Antragsstellers ist die Volljährigkeit nicht offensichtlich. Auch liegen keine eigenen Angaben des Antragstellers oder andere Nachweise vor, die auf eine Unrichtigkeit der Angabe der Minderjährigkeit schließen lassen. Es verbleibt danach allein die von der Antragsgegnerin vorgenommene Alterseinschätzung mittels Inaugenscheinnahme und Aufnahmegespräch. Im Einzelnen:

Die Inaugenscheinnahme führt, wie die in der Behördenakte befindliche Porträtaufnahme des Antragstellers belegt, zu keinem Ergebnis, das derart eindeutig ist, dass Zweifel an einer Minderjährigkeit oder umgekehrt an einer Volljährigkeit von vornherein nicht ernstlich in Betracht kommen (vgl. OVG Hamburg, B. v. 09.02.2011 - 4 Bs 9/11 -, Rn. 83, juris). Soweit die Antragsgegnerin die Alterseinschätzung auf sichtbare äußere Merkmale des Antragstellers stützt, bilden die insoweit getroffenen Feststellungen für sich genommen keine ausreichend zuverlässige Grundlage zur Alterseinschätzung. Die Antragsgegnerin hat nicht dargelegt und es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass es Untersuchungen gibt, wonach das Vorhandensein der von der Antragsgegnerin festgestellten Merkmale mit ausreichender Sicherheit diesen Schluss zuließen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 14.10.2009 - 6 S 33.09 -, Rn. 6, juris).

Das protokollierte Aufnahmegespräch enthält ebenfalls keine detaillierten, ohne weiteres nachprüfbare und bereits aus sich heraus überzeugende Angaben zum Alter des Antragstellers. Seine Angabe, er sei Muezzin gewesen, führt insoweit zu keiner anderen Beurteilung. Der Einwand der Antragsgegnerin, es sei davon auszugehen, dass der Antragsteller über einen Ausweis verfüge, da ohne Vorlage eines Passes eine Grenzüberschreitung nicht möglich sei, greift nicht. Der Antragsteller ist nach seinen Angaben bei dem Erstgespräch entgegen der Antragserwiderung nicht direkt von Guinea in die Bundesrepublik eingereist.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt nicht, dass einer Alterseinschätzung durch in der Jugendarbeit erfahrene Mitarbeiter keine Aussagekraft beizumessen wäre (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 13,11.2014, - 12 B 1280/14 -, Rn. 18, juris). Sie allein ist hier aber - wie ausgeführt - nicht geeignet, die streitige Aufhebungsentscheidung zu tragen bzw. die dargestellten Zweifel auszuräumen.

Bei der vom Gericht bei dieser Sachlage zu treffenden Interessenabwägung ist zugunsten des Antragstellers de aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Hierbei ist einerseits die Garantie des effektiven Rechtsschutzes wie auch das persönliche Interesse des Antragstellers des durch § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII vermittelten Rechtsanspruchs auf Inobhutnahme und Unterbringung in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung für einen nicht unerheblichen Zeitraum verlustig zu gehen, zu beachten. Gleichzeitig bliebe der Antragsteller ansonsten weiterhin den möglichen Gefahren einer unbegleiteten Unterbringung in einer Asylbewerberunterkunft für Erwachsene ausgesetzt, denen der Gesetzgeber mit dem Erlass der in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII getroffenen Regelung gerade begegnen wollte (BayVGH, B.v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833 -, Rn. 25f., juris). [...]