VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 26.04.2002 - 9 UE 1508/99.A - asyl.net: M2310
https://www.asyl.net/rsdb/M2310
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Zeugen Jehovas in Eritrea, auch nicht durch drohende Bestrafung wegen Verweigerung des "Nationalen Dienstes" oder Kriegsdienstes; Verweigerung der Einreisegenehmigung ist keine politische Verfolgung; extreme Gefährdungslage wegen katastrophaler Versorgungslage.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Eritrea, Staatsangehörigkeit, Zeugen Jehovas, Diskriminierung, Wehrdienstverweigerung, Politmalus, Religiös motivierte Verfolgung, Religionsfreiheit, Religiöses Existenzminimum, Gruppenverfolgung, Krankheit, Hypertonie, Osteoporose, Situation bei Rückkehr, Einreiseverweigerung, Abschiebungshindernis, Versorgungslage, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Extreme Gefahrenlage, Soziale Bindungen
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Es kann eine asylrelevante Gruppenverfolgung aller Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Eritrea nicht festgestellt werden. Die den Zeugen Jehovas auferlegten Beschränkungen betreffen weder Leib noch Leben oder die persönliche Freiheit dieser Bevölkerungsgruppe. Eine Gruppenverfolgung könnte sich allenfalls aus einer Umsetzung der Direktive des eritreischen Staatspräsidenten vom 25. Oktober 1994 ergeben. Bei dieser Direktive handelt es sich um ein offizielles Schreiben des Präsidenten Eritreas an den damaligen Innenminister Ali Said Abdalla (Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 19. Januar 2001 an VG Kassel; Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft vom 19. November 1996 an Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge), die durch eine Stellungnahme des eritreischen Innenministeriums vom 25. Oktober 1995 (UNHCR vom 25. Juni 1996 an Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge), bestätigt worden ist. Danach unterliegen Zeugen Jehovas einer erheblichen Einschränkung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Freiheiten, weil sie sich aus religiösen Gründen geweigert haben, am bewaffneten Kampf und am Referendum für die Unabhängigkeit Eritreas im Jahre 1993 teilzunehmen, und die gesetzliche Pflicht zur Ableistung des 18-monatigen "Nationalen Dienstes" ablehnen (UNHCR, Auskunft vom 25. Juni 1996 an Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge). Staatspräsident Afewerki ordnete an, dass Zeugen Jehovas eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst ("governamental office") nicht mehr erlaubt sein sollte, soweit sie dort bereits beschäftigt waren, sollten sie entlassen werden. Sie sind nicht mehr berechtigt, in Häusern oder Wohnungen zu wohnen, die im staatlichen Besitz oder unter staatlicher Verwaltung stehen, und müssen diese räumen, wenn ihre Religionszugehörigkeit bekannt wird. Zeugen Jehovas, die über eine Gewerbe- oder Geschäftslizenz ("trading license") verfügten, wurde diese entzogen. Betriebe bzw. Geschäfte oder Büros wurden geschlossen, offenbar auch dann, wenn ein Teilhaber eine andere Religionszugehörigkeit hatte, oder sie wurden an Personen vergeben, die sich nicht zu der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas bekennen. Die Ausstellung von Personenstandsurkunden wurde ebenso erschwert wie andere staatliche Serviceleistungen wie z. B. die Registrierung für die Landzuteilung (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2. Dezember 1997). Die Ausstellung eines eritreischen Reisepasses wurde generell versagt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8. März 2001 an VG Kassel). Von diesen Maßnahmen waren nicht nur diejenigen im dienstpflichtigen Alter, sondern alle Zeugen Jehovas, unabhängig von Alter, Familienstand und sozialer Lage, betroffen (Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 8. Februar 1996 an VG Würzburg). Es ist allerdings schon fraglich, ob die genannte Direktive zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch Anwendung findet, denn es gibt keine konkreten Auskünfte darüber, dass sie auch heute noch umgesetzt wird. Zwar ist amnesty international der Auffassung, die Direktive sei nach wie vor gültig (amnesty international, Auskunft vom 20. August 2001 an VG Kassel), ohne dies indes durch Referenzfälle zu belegen. Dies gilt gleichermaßen für das Institut für Afrika-Kunde, dem keine Informationen darüber vorliegen, dass die Direktive widerrufen worden sein könnte, und das deshalb davon ausgeht, sie besitze weiterhin Gültigkeit, wenn auch nicht ausgeschlossen werden könne, dass die darin enthaltenen Handlungsanweisungen zwischenzeitlich durch neuere regierungsinterne Schreiben modifiziert wurden (Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 19. Januar 2001 an VG Kassel). Dagegen ist das Auswärtige Amt der Auffassung, die Direktive werde nicht mehr angewandt, wenn sie auch nicht förmlich außer Kraft gesetzt worden sein soll (Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 3. März 2001 an VG Kassel und vom 21. November 2001 an VG Darmstadt). Es mag indessen dahin stehen, ob und ggf. in welchem Umfang die oben genannte Direktive auch heute noch umgesetzt wird. Selbst wenn diese Anweisung heute noch Anwendung finden sollte, erfüllen die mit ihr verordneten Beschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte und Freiheiten der Zeugen Jehovas nach Intensität und Dichte nicht die Voraussetzungen für eine asylrechtsrelevante Gruppenverfolgung der Zeugen Jehovas in Eritrea. Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses oder der Religionsausübung wird nicht angetastet. Auch die Beschränkungen der beruflichen und erwerbswirtschaftlichen Betätigungsfreiheit der Zeugen Jehovas sind nicht asylrechtlich erheblich. Die von den Zeugen Jehovas zu erduldenden Maßnahmen berühren nicht ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage. Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung ergeben sich auch nicht aus dem Umstand, dass Zeugen Jehovas durch den Entzug bzw. durch die Versagung der hierfür erforderlichen Lizenzen ohne zureichende Begründung faktisch die Betätigung als selbständige Unternehmer verboten wurde.

Politische Verfolgung droht der Klägerin weiterhin auch nicht wegen der Gefahr, im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea möglicherweise zu dem dort gesetzlich vorgeschriebenen "Nationalen Dienst" einberufen zu werden. Ob die im Oktober 1950 geborene Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea überhaupt noch mit einer Einberufung zum Nationalen Dienst rechnen muss, ist fraglich, da sie die gesetzliche Höchstgrenze mit Vollendung des 40. Lebensjahres bereits überschritten hat. Anhaltspunkte dafür, dass der eritreische Staat mit der Bestrafung von Zeugen Jehovas wegen Verweigerung der Ableistung des Nationalen Dienstes Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft gerade wegen ihres Bekenntnisses noch zusätzlich - über die Ahndung zivilen Ungehorsams gegenüber der allgemeinen Dienstpflicht hinaus - bestrafen wolle, sind nach allen dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnissen nicht ersichtlich. Zum einen können nämlich Zeugen Jehovas in Eritrea in dem oben dargestellten Rahmen der Proklamation Nr. 73/1995 ihren Glauben frei praktizieren, zum anderen werden nach den vorliegenden Erkenntnissen auch andere Personen, die den Dienst - auch aus religiösen Gründen - verweigern, insbesondere moslemische Frauen, bestraft.

Die Klägerin hat indes Anspruch auf Abschiebungsschutz gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in verfassungskonformer Auslegung wegen allgemeiner Gefahren im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG. Das Auswärtige Amt spricht in seinem ad hoc-Bericht vom 18. Mai 2000 von einer aktuellen Hungerkatastrophe. Soweit das Auswärtige Amt wenig später mitteilt, die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sei gesichert, in den Städten bestehe die Möglichkeit, Lebensmittel - wenn auch zu gestiegenen Preisen, zu kaufen, während die Versorgung der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten durch Hilfsorganisationen sichergestellt sei (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26. Juli 2000 an VG München), vermag der Senat dem nicht zu folgen, denn die Auskunft steht im Widerspruch zu dem nachfolgenden Lagebericht. Hier wird nämlich wiederum ausgeführt, die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sei nicht gewährleistet. Die eritreischen Behörden seien angesichts der wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen mit der Aufgabe der Versorgung der Bevölkerung völlig überfordert, die daher aus dem Ausland erfolgen müsse (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10. November 2000). Auch den nachfolgenden Berichten der auskunftgebenden Stellen lässt sich keine grundlegende Verbesserung der Versorgungssituation der Menschen in Eritrea entnehmen. Die Klägerin kann auch nicht auf die Hilfe von Familienangehörigen zurückgreifen, ihr Ehemann ist schon lange vor ihrer Ausreise verstorben, ihre beiden Söhne leben in der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus erscheint dem Senat die Realisierung einer möglicherweise gegebenen Chance einer Berufsausübung angesichts des Gesundheitszustandes der Klägerin kaum aussichtsreich. Dies ergibt sich aus dem Inhalt des ärztlichen Attests der (...) vom (...). Danach leidet die Klägerin seit (...) unter Brust- und Lendenwirbelsäulenschmerzen, die u. a. durch (...) hervorgerufen werden. Hinzu kommt eine (...). Die Klägerin bedarf deshalb der ständigen medikamentösen und krankengymnastischen Therapie. Angesichts dieses Krankheitsbildes bestehen kaum Chancen auf eine Berufstätigkeit. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass es in Eritrea keine gesetzliche Krankenversicherung gibt, die Klägerin also für die notwendigen Medikamente selbst aufkommen müsste (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 19. März 2001 an VG Ansbach). Hierfür fehlen ihr jedoch - wie zuvor dargelegt - die finanziellen Mittel. Nach alledem ist nach Auffassung des Senats für die heute 52 Jahre alte Klägerin die Schwelle einer konkreten Existenzgefährdung erreicht.