Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S.1 AufenthG aufgrund schwerer Depression und nicht finanzierbarer medizinischer Behandlung in Aserbaidschan.
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Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihr ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Aserbaidschans nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist. Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann. Ein Ausländer kann schon dann auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht. Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 a.a.O. und Urt. v. 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24).
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997, BVerwGE 105, 383; Urt. v. 27.04.1998, NVWZ 1998, 973 und Urt. v. 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 a.a.O. und vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.07.1999 a.a.O.). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschl. v. 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urt. v. 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51). An die Qualität und Dichte der Gesundheitsversorgung im Abschiebungszielland einschließlich Kostenbeteiligung des Betroffenen können allerdings keine der hiesigen Gesundheitsversorgung entsprechenden Anforderungen gestellt werden (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 06.09.2004, AuAS 2005, 31).
In Anwendung dieser Grundsätze ist die Einzelrichterin bei der vorzunehmenden qualifizierenden und bewertenden Betrachtungsweise zu der Überzeugung gelangt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan eine im vorgenannten Sinne erhebliche krankheitsbedingte individuelle Gefahr droht. Nach den vorliegenden Attesten und Befundberichten handelt es sich bei der Klägerin um eine schwer depressive Frau, die viel über den Tod ihrer Kinder grübelt, oft weint und sich stark zurückgezogen hat. Die depressiven Symptome bessern sich seit Jahren nicht, sondern schreiten weiter fort; der letzte stationäre Aufenthalt hat nur eine langsame Besserung der aktuellen Symptome bewirken können, ohne dass eine vollständige Regredienz eingetreten ist. Die Klägerin machte in den beiden mündlichen Verhandlungen nach dem Selbstmordversuch dementsprechend überhaupt nicht den Eindruck, auf dem Wege der Besserung zu sein; sie wirkte vielmehr sehr labil, völlig erschöpft und weitgehend resigniert. Sie leidet heute noch schwer unter dem Verlust ihrer Kinder vor vielen Jahren in Aserbaidschan und auch unter ihrer unsicheren Situation in Deutschland. Sie hat große Angst um die Zukunft ihrer Kinder und will bei ihnen sein. Die Erklärungen der Klägerin waren dabei sehr zurückhaltend und fielen ihr offenbar schwer, so dass sie überhaupt nicht dramatisierend, sondern sehr glaubhaft waren. Die Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass die Klägerin wegen ihrer psychischen Erkrankung und der benötigten regelmäßigen ärztlichen und medikamentösen Betreuung nicht nach Aserbaidschan zurückkehren kann, weil anderenfalls mit einer raschen Verschlechterung des Gesundheitszustandes gerechnet werden muss. Denn nach dem vorliegenden Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 14.02.2014 (Seite 22, IV. Rückkehrfragen, 1. Situation für Rückkehrer)
1.1. Grundversorgung
... liegen Mindestgehalt (ca. 108,50 €) und Mindestrente (ca. 103 €) pro Monat bei ähnlichen Lebenshaltungskosten wie in Deutschland ..., noch unter der amtlichen Armutsgrenze. Einkommensschwache Familien ... haben im Jahr 2013 zusätzliche Sozialleistungen in Höhe von durchschnittlich ca. 130 € pro Monat erhalten.
1.2. Medizinische Versorgung
... besteht in Aserbaidschan kein funktionierendes staatliches Krankenversicherungssystem; eine alle notwendigen Behandlungen umfassende kostenlose medizinische Versorgung gibt es nur auf dem Papier. Dringende medizinische Hilfe wird in Notfällen gewährt (was den Krankentransport und die Aufnahme in ein staatliches Krankenhaus einschließt); mittellose Patienten werden minimal versorgt, dann aber nach einigen Tagen "auf eigenen Wunsch" entlassen, wenn sie die Behandlungskosten nicht aufbringen können."
Die Klägerin müsste mithin für die benötigte ärztliche Betreuung selbst aufkommen, obwohl sie mit den staatlichen Leistungen ganz offenbar nicht einmal in der Lage sein dürfte, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Die Klägerin kann insoweit zumindest auf absehbare Zeit auch nicht auf die Hilfe von ihren Familienangehörigen, die derzeit alle in der Bundesrepublik Deutschland leben, verwiesen werden, da diese nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Ihr Ehemann, mit dem sie anscheinend nach langer Trennung wieder zusammenleben wird, ist ebenfalls krank und arbeitslos, der Sohn geht noch zur Schule und die Tochter hat gerade eine Berufsausbildung begonnen. [...]