Wenn einem Flüchtling in Italien dauerhafte Obdachlosigkeit und Unterernährung oder Gewalt und gesundheitsgefährdende Zustände in Unterkünften drohen, die auch einen jungen, alleinstehenden und (bisher) gesunden Asylbewerber an die Grenzen der körperlichen und seelischen Belastbarkeit bringen, soll ihn Art. 3 EMRK davor schützen. Eine solche Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK droht einem Asylbewerber aufgrund der systemischen Mängel des italienischen Asylverfahrens so lange, wie die italieneischen Behörden keine individuelle Garantieerklärung dafür abgeben, dass der Antragsteller einen Platz in einer Unterkunft erhält und seine grundlegenden Bedürfnisse an Nahrung, Hygiene und medizinischer Versorgung gedeckt sind.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss zwar eine Misshandlung ein notwendiges Minimum an Intensität erreichen, um in den Anwendungsbereich von Artikel 3 EMRK zu fallen, wobei dieses Minimum von den Umständen des Einzelfalls abhängt, beispielsweise der Dauer der Behandlung, ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie, in einigen Fällen, Geschlecht, Alter und dem Gesundheitszustand des Betroffenen (vgl. EGMR, Urteile vom 26.10.1996 (Große Kammer) - Nr. 30210/96, Kudla -, Rn. 91, ECHR 2000-XI, und vom 21.1.2011 - Nr. 30696/09, M.S.S. - Rn. 249). Weiterhin hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt entschieden, dass Artikel 3 EMRK die Vertragsparteien nicht allgemein dazu verpflichtet, jedem in ihrem Hoheitsgebiet ein Zuhause zur Verfügung zu stellen oder Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, Urteile vom 18.1.2001 (Große Kammer) - Nr. 27238/95, Chapman -, ECHR 2001-1 Rn. 99; vom 26.4.2005 - Nr. 53566/99, Müslim -, Rn. 85; und vom 21.1.2011 - M.S.S., a.a.O. -, Rn. 249). Zugleich hat der Gerichtshof aber betont, dass Asylsuchende als Angehörige einer besonders unterprivilegierten und verletzlichen Bevölkerungsgruppe besonderen Schutzes bedürfen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass von einer Rückführung in sichere Drittstaaten betroffene Ausländer - anders als bei einer Rückführung in ihr Heimatland - regelmäßig weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.9.2014 - a.a.O.).
In dieser Konstellation sieht auch der Europäische Gerichtshof Art. 3 EMRK verletzt, wenn in einer Situation extremer materieller Armut und vollkommener Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung der Betroffene in einer Lage schwerwiegender Entbehrungen oder Not, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist, mit behördlicher Gleichgültigkeit konfrontiert wird (vgl. EGMR, Entscheidung vom 18.6.2009 - Nr. 45603/05, Budina -). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Verpflichtung, Asylsuchenden Unterkunft und anständige materielle Bedingungen zu gewähren, Bestandteil des positiven Rechts geworden und die Behörden gehalten sind, ihre eigene Gesetzgebung zu befolgen, und ein dahingehendes Unterlassen es dem Betroffenen unmöglich macht, diese Rechte in Anspruch zu nehmen und für seine grundlegenden Bedürfnisse zu sorgen.
In diesem Zusammenhang sind die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen - Aufnahmerichtlinie - (ABl. L 180 S. 96) genannten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen. Nach Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie tragen die Mitgliedsstaaten dafür Sorge, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können, die einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet. Bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen erlaubt Art. 18 der Aufnahmerichtlinie für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, niedrigere Standards der Unterbringung, wobei allerdings unter allen Umständen die Grundbedürfnisse gedeckt werden müssen. Zu diesen Grundbedürfnissen rechnet das Gericht auch die Unterkunft an sich, die Versorgung mit Nahrung, elementare Hygienebedürfnisse und den Schutz vor Übergriffen und geschlechtsbezogener Gewalt einschließlich sexueller Übergriffe und Belästigung in Unterbringungszentren.
Es steht für das Gericht außer Zweifel, dass auch der Antragsteller diese Grundbedürfnisse tatsächlich hat. Dass Art. 3 EMRK bei schutzbedürftigen Personen im Sinne von Art. 21 der Aufnahmerichtlinie die Berücksichtigung weiterer individueller Bedürfnisse gebietet - etwa hinsichtlich der gemeinsamen Unterbringung von Familien und des Schutzes der Kinder oder des Bedarfs besonderer medizinischer Versorgung -, steht dem nicht entgegen.
Auch der - insoweit tautologische - Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie:
"Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet.
Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um schutzbedürftige Personen im Sinne von Artikel 21 und um in Haft befindliche Personen handelt."
erlaubt keine derartige Differenzierung am untersten Rand der Existenzsicherung. Vielmehr sind eine dauerhafte Obdachlosigkeit und Unterernährung ebenso wie Gewalt und gesundheitsgefährdende Zustände in Unterkünften geeignet, auch einen jungen, alleinstehenden und (bisher) gesunden Asylbewerber an Grenzen der körperlichen und seelischen Belastbarkeit zu bringen, vor deren Überschreitung ihn Art. 3 EMRK schützen soll.
Eine solche Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK droht dem Antragsteller aufgrund der systemischen Mängel des italienischen Asylverfahrens jedenfalls solange, wie. die italienischen Behörden keine individuelle Garantieerklärung dafür abgeben, dass der Antragsteller einen Platz in einer Unterkunft erhält und seine grundlegenden Bedürfnisse an Nahrung, Hygiene und medizinischer Versorgung gedeckt sind.
Schließlich teilt die Kammer auch nicht die vom 11. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 25.6.2015 - 11 LB 248/14 -) auch unter Hinweis auf die obergerichtliche Rechtsprechung in anderen Bundesländern vertretene Einschätzung, in Italien lägen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber vor, aufgrund derer einem im Dublin-Verfahren rücküberstellten Asylbewerber die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung drohe, weshalb - entgegen der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung der Kammer - ein alleinstehender junger Mann nicht zu den besonders schutzbedürftigen Personen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 4. November 2014 - a.a.O. -) gehöre, deren Rücküberstellung eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden hinsichtlich der Unterbringung erfordere. Der 11. Senat führt aus, dass es in Italien zwar nach wie vor zu Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung von Asylbewerbern komme, wobei sich zuverlässige Belegungszahlen allerdings nur schwer ermitteln ließen. Italien nehme jedenfalls die Unterbringungssituation nicht tatenlos hin, sondern habe in den letzten Monaten weitere Unterbringungsformen eingerichtet, um auf die hohe Zahl an Bootsflüchtlingen zu reagieren. Insofern lasse auch der Anstieg der Zahl der Asylanträge im Jahr 2014 auf über 64.000 gegenüber 26.000 im Jahr 2013 (Quelle: Eurostat) nicht darauf schließen, dass Italien mit der Unterbringung der Flüchtlinge überfordert sei (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 25.6.2015 - a.a.O. -, Rn. 53). Nach Auffassung der Kammer ist hingegen zu berücksichtigen, dass die von Eurostat ermittelten Flüchtlingszahlen, auf die der 11. Senat seine Bewertung im Hinblick auf das Asyl- und Aufnahmesystem in Italien im Wesentlichen stützt, nur die Personen erfasst, die ihre verbalizzazione, d. h. eine formelle Registrierung, haben durchführen lassen. Nach neueren Zahlen wurden in Italien im Jahr 2014 insgesamt 170.000 einreisende Migranten und Asylsuchende erfasst (vgl. International Organization for Migration: Migrat Arrivals by Sea in Italy Top 170,000 in 2014 vom 16. Januar 2015, www.iom.int/news/migrant-arrivals-sea-italy-top-170000-2014, abgerufen am 13. Juli 2015). Auch die aktuellen Zahlen für das Jahr 2015 weisen in die Richtung eines weiteren Anstiegs von Flüchtlingen in Italien. So erreichten im ersten Quartal 2015 erneut ca. 12.000 Flüchtlinge die italienische Künste (vgl. International Organization for Migration: Over 10,000 Migrants Arrive in Italy By Sea in 1st Quarter 2015 vom 10. April 2015, www.iom.int/news/over-10000-migrants-arrive-italy-sea-1st-quarter-2015, abgerufen am 13. Juli 2015). Die parlamentarische Untersuchungskommission zur Flüchtlingsproblematik rechnet für dieses Jahr mit insgesamt 200.000 Flüchtlingen (vgl. Stol.it, Flüchtlingsunterkünfte in Italien 2015 um 15 % gestiegen vom 7. Mai 2015, www.stol.it/Artikel/Chronik-im-Ueberblick/Chronik/Fluechtlingsankuenfte-in-Italien-2015-um-15-Prozent-gestiegen, abgerufen am 13. Juli 2015).
Weitere - deutliche - Hinweise auf ein systemisches Versagen des italienischen Asyl- und Aufnahmesystems sind die hohe Anzahl durch die italienischen Behörden unbeantworteter Übernahmeersuchen und nicht zuletzt die Entscheidung der politischen Entscheidungsträger auf dem EU-Gipfel im Juni 2015, 40.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf andere EU-Länder zu verteilen (siehe hierzu: www.sueddeutsche.de/politik/eu-gipfel-deutschland-nimmt-italien-und-griechenland-fluechtlinge-ab-1.2538767). [...]