VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 03.09.2015 - 22 L 2944/15.A - asyl.net: M23162
https://www.asyl.net/rsdb/M23162
Leitsatz:

Es bestehen hinreichende Anhaltspunkte für systemische Mängel hinsichtlich des Asylverfahrens in Ungarn aus den zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts. Insbesondere begründet die Aufnahme Serbiens - neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten - in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass der betroffene Antragsteller keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhält, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe vorgenommen würde.

Schlagwörter: systemische Mängel, Asylverfahren, Ungarn, Liste der sicheren Drittstaaten, Serbien, Dublin-Rückkehrer, Refoulement,
Normen: GR-Charta Art. 4, AsylVfG § 26a, AsylVfG § 34a, AsylVfG § 27a,
Auszüge:

[...]

Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 -C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 86).

Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rdn. 6 ff. m.w.N.)

Vorliegend ergeben sich hinreichende Anhaltspunkte für systemische Mängel im oben genannten Sinn hinsichtlich des Asylverfahrens in Ungarn aus den zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts, soweit sie sich aus frei zugänglichen Veröffentlichungen ergeben (vgl. ausführlich Hungarian Helsinki Commitee, Building a legal fence - Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, http:/helsinki.hu/wp-content/uploads/HHC-HU­asylum-Iaw-amendment-2015-August-Info-note pdf, abgerufen am 14. August 2015, vgl. ferner Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2 Juli 2015, "UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste", www.unhcr.org/559641846.html, aida, Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries", http.//www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries­origin-and-safe-third-countries; amnesty international "Hungary. Change to Asylum Law puts tens of thcusands at risk", https //www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law­puts-tens-of-thousands-at-risk/, alle abgerufen am 6 August 2015).

Insbesondere begründet die Aufnahme von Serbien - neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten - in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass der betroffene Antragsteller keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhält, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe vorgenommen würde. Es besteht die Gefahr, dass er bei einer Überstellung nach Ungarn durch die dortigen Behörden ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Mindeststandards beispielsweise nach Serbien abgeschoben wird. Nach den Feststellungen des Europäischen Kommissars für Menschenrechte ist jedoch jedenfalls hinsichtlich Serbien äußerst zweifelhaft, dass das dortige Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen den europäischen Mindestanforderungen entsprechen (vgl. Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27 November 2013, [...]).

Damit liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Ungarn eine weitere Abschiebung in ein nicht sicheres Drittland und damit letztlich in sein Herkunftsland droht, ohne ihm Zugang zu einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewähren, in dem seine Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden. Darin läge zugleich ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot zu Lasten des Antragstellers (vgl. VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 6 August 2015 - 22 L 615/15A -, nrwe de, und vom 21 August 2015 - 8 L 2811/15.A -, n.v.).

Ob und gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit eine solche Gefahr dem Antragsteller in seiner persönlichen Situation als Dublin-Rückkehrer tatsächlich droht, bedarf weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren. [...]