VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 17.06.2015 - 5 A 222/12 As - asyl.net: M23178
https://www.asyl.net/rsdb/M23178
Leitsatz:

Ein Familienangehöriger von ONLF-Aktivisten (Ogaden National Liberation Front) ist gefährdet, wenn er in das Blickfeld der äthiopischen Sicherheitskräfte gerät. Ein äthiopischer Staatsangehöriger somalischer Volkszugehörigkeit kann zur Ablehnung seines Schutzanspruchs nicht darauf verwiesen werden, dass er die somalische Staatsangehörigkeit erwerben könnte, da nur auf die Staatsangehörigkeit abgestellt werden kann, die man bereits besitzt.

Schlagwörter: ONLF, Ogaden, Äthiopien, somalische Volkszugehörigkeit, Ogaden National Liberation Front, Familienangehörige, Sippenhaft, politische Verfolgung, interne Fluchtalternative, Somalia, ethnische Somali,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat vor seiner Ausreise aus Äthiopien eine individuelle politische Verfolgung in Anknüpfung an seine politische Überzeugung erlitten. Das Gericht ist nach der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen, insbesondere die Festnahme und Misshandlung durch äthiopische Sicherheitskräfte im Jahr 2008, der Wahrheit entspricht.

Bereits in seiner Anhörung vom 13.09.2010 hat der Kläger das Verfolgungsgeschehen und dessen Hintergrund detailliert und anschaulich geschildert. In der mündlichen Verhandlung hat er das Geschehen ebenso anschaulich wiederholt und sämtliche Nachfragen des Gerichts ausführlich und überzeugend beantwortet, ohne dass dabei Widersprüche oder Ungereimtheiten aufgetreten wären. [...]

Die gegenteilige Einschätzung der Beklagten vermag nicht zu überzeugen. Nach Auffassung des Gerichts ist das Verhalten der äthiopischen Sicherheitskräfte nicht deshalb als unwahrscheinlich einzustufen, weil der Kläger tatsächlich nicht für die ONLF aktiv gewesen ist. Die Argumentation, ein unpolitischer Bewohner des Ogaden wäre allein auf Grund der Mitgliedschaft seiner Verwandten bei der ONLF nicht inhaftiert worden, es hätte näher gelegen, seine Verwandten festzusetzen, ist durch die ergänzenden Angaben des Klägers widerlegt worden. Gerade weil sein Bruder bereits seit langer Zeit "untergetaucht" war und die Sicherheitskräfte seiner offenbar nicht habhaft werden konnten, ist es durchaus plausibel, dass sie den - aus ihrer Sicht ungefährlichen - Kläger ins Visier genommen haben, um auf diese Weise Informationen über den Bruder und dessen Aufenthaltsort zu erlangen.

Auf der Basis dieser Feststellungen ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Verfolgungsmaßnahmen gingen von staatlichen Akteuren aus und haben erkennbar an die politische Überzeugung des Klägers und damit an ein asylrelevantes Merkmal angeknüpft. Dabei reicht es aus, dass ihm diese politische Überzeugung von Seiten der Verfolger zugeschrieben wurde, auch wenn sie tatsächlich nicht bestanden haben mag. Mit Blick auf die ihm zugefügte Freiheitsentziehung und Misshandlung liegt eine schwerwiegende, den Betroffenen aus der staatlichen Friedensordnung ausgrenzende Verfolgung vor. Der nötige Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Ausreise ist ebenfalls gegeben. Er kann auch nicht auf internen Schutz (§ 3e AsylVfG) in anderen Teilen seines Herkunftslandes verwiesen werden. Hinreichende Sicherheit vordem Zugriff der äthiopischen Sicherheitskräfte besteht für ihn als somalischen Volkszugehörigen in anderen Landesteilen nicht (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 04.03.2015, Seite 15).

Der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft steht auch nicht entgegen, dass der Kläger möglicherweise die somalische Staatsangehörigkeit erwerben und sich nach Somalia begeben könnte. Es kommt nicht darauf an, ob er dort vor dem Zugriff Äthiopiens hinreichend sicher wäre. Wie bereits ausgeführt ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG allein auf Äthiopien als das Herkunftsland abzustellen, dessen Staatsangehörigkeit er bereits besitzt.

Der Kläger muss im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut mit politischer Verfolgung rechnen. Stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung liegen nicht vor. Der Zeitablauf von annähernd sieben Jahren reicht nicht für die Annahme, dass der Kläger vor einem erneuten Zugriff Äthiopiens sicher wäre. Seit 2008 haben sich weder das Regime in Äthiopien noch die Lage im Ogaden grundlegend geändert. Der Konflikt zwischen der äthiopischen Regierung und der ONLF besteht weiter fort.

Im Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 17.06.2014 (Seite 7 und 12) heißt es dazu:

"Die Ogaden National Liberation Front (ONLF) wurde in den 1980er Jahren gegründet. Seither kämpft die Gruppierung für einen unabhängigen Staat in der Ogaden-Region. Das Gebiet wird hauptsächlich von ethnischen Somali muslimischen Glaubens bewohnt. Gespräche zwischen der Regierung und der ONLF, um den jahrzehntelangen Konflikt zu beenden, waren bisher nicht erfolgreich. Angehörige der äthiopischen Armee, regierungsnahe Milizen sowie die ONLF wurden wiederholt beschuldigt, Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Festnahmen, extralegale Hinrichtungen und Vergewaltigungen begangen zu haben, Medienschaffende, Menschenrechtsorganisationen und die meisten Hilfswerke haben keinen Zugang ins umkämpfte Gebiet. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz musste bereits im Jahr 2007 die Region verlassen, da die äthiopische Regierung die Organisation der Zusammenarbeit mit Terroristen bezichtigt hatte.

Die äthiopische Regierung geht äußerst hart gegen vermeintliche oder tatsächliche Mitglieder der ONLF vor. Gemäß Amnesty International werden im Ogaden-Gebiet oftmals zivile Personen festgenommen, die keinerlei Verbindung zur Organisation haben. Ein Verdacht der Sicherheitsbehörden, die ONLF zu unterstützen, reicht aus, um verhaftet zu werden. Selbst UNO-Mitarbeiter werden nicht verschont. Yusuf Mohammed ist seit 2010 in Haft, da die äthiopischen Behörden seinen Bruder verdächtigen, Verbindungen zur ONLF zu haben. Die Behörden wollen mit der Haft die Rückkehr des Bruders erzwingen."

Auch das Auswärtige Amt führt im Lagebericht vom 04.03.2015 (Seiten 7 und 13) aus, zwar sei im Oktober 2010 ein Friedensabkommen mit Teilen der ONLF abgeschlossen worden, das die Freilassung von Gefangenen, die Reintegration ehemaliger Kämpfer und eine Amnestie für diejenigen zusichert, die ihre Waffen freiwillig abgeben. Allerdings sei die Umsetzung des Abkommens weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Manche ehemaligen Kämpfer würden nach Freilassung wieder eingesperrt, andere Kämpfer seien zu dem noch kämpfenden Flügel der ONLF übergelaufen. Die ONLF werde von der äthiopischen Regierung nach wie vor als terroristische Vereinigung eingestuft.

Es kommt noch hinzu, dass der Kläger sich nach seinen glaubhaften Angaben auch exilpolitisch für die ONLF und für die OYSU betätigt hat. Zwar begründen solche Aktivitäten - isoliert betrachtet - nur dann relevante Verfolgungsgefahren in Äthiopien, wenn sich der Betreffende aus dem Kreis der bloßen Mitläufer hervorhebt und als möglicher ernsthafter Oppositioneller in Frage kommt (vgl. VG Gießen, Urteil vom 29.02.2012, 6 K 2312/10.GIA; VG Bayreuth, Urteil vom 06.07.2011, B 3 K 10.30246; OVG Münster, Urteil vom 17.08.2010, 8 A 4063/06.A). Dies dürfte beim Kläger bei dem geringen Ausmaß der von ihm geschilderten exilpolitischen Betätigung noch nicht der Fall sein. Darauf kommt es mit Blick auf die bereits festgestellte asylrelevante Vorverfolgung aber nicht mehr entscheidend an. [...]