Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgung aufgrund der Unterstützung der Kandidatur Ter-Petrosjans bei der Präsidentenwahl im Februar 2008.
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Das Gericht ist zur Überzeugung gelangt, dass dem Kläger in seinem Heimatstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit individuelle Gefahren in diesem Sinne drohen. Nach dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck und aufgrund seiner Angaben ist das Gericht zur Auffassung gelangt, dass der Kläger eine Vorverfolgung im Heimatstaat erlebt hat, wodurch die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QualRL eingreift.
Das Gericht geht im Tatsächlichen davon aus, dass der Kläger mit der Präsidentenwahl 2008 beginnend Probleme mit dem politisch motivierten Hintergrund gehabt hat. Er war aktiv für eine politische Organisation/Partei, die den Kandidaten Ter-Petrosyan unterstützte. Dies wird im Übrigen auch zweifelsfrei durch die seitens des Gerichts eingeholte Auskunft von Frau Dr. Savvidis. Bei den Aktivitäten des Klägers ist er wiederholt mit den Sicherheitskräften in Konflikt und Kontakt geraten. Dies führte in der Folgezeit dazu, dass der Kläger stärker in den Fokus der politischen Auseinandersetzung geriet und er sozusagen bereits im Vorfeld der anstehenden Wahlen massiv attackiert worden ist, um jegliche Beteiligung seiner Person bei dem Wahlgeschehen zu verhindern. Soweit die Auskunft nach dem dort beschriebenen Aufwand nicht bestätigen konnte, dass der Kläger inhaftiert worden ist und nicht Parteimitglied sei, weist die Auskunft bereits selbst darauf hin, dass die eigene Organisation Leute die aus Armenien ausreisen grds. nicht unterstützen. Insoweit sind jedoch keine entgegenstehenden Gründe ersichtlich geworden. Die diesbezüglich seitens des Klägers gemachten Angaben lassen zur Überzeugung des Gerichts auch nicht an deren Authenzität zweifeln.
Der Kläger hat die erlittene Vorverfolgung schlüssig dargelegt. Er hat in der mündlichen Verhandlung im Kern denselben Sachverhalt vorgetragen wie bereits in der Anhörung vor dem Bundesamt. Der Kläger schilderte seine Ausreisegründe widerspruchsfrei und plausibel. Seine Angaben hält das Gericht auch unter Berücksichtigung der Erkenntnisse über die damalige Situation in Armenien für glaubhaft. Dies auch obwohl seine Ehefrau beim Bundesamt eine längere Haftzeit des Klägers angegeben hat. Der Kläger selbst vermochte bereits im Vorfeld der mündlichen Verhandlung diese Diskrepanz völlig unaufgeregt zu erklären. Auch seine Ehefrau war diesbezüglich politisch engagiert.
Die Schilderungen des Klägers bezüglich der Wahl 2008 entsprechen dem Grunde nach auch den allgemeinen Berichten und Erkenntnissen über diese Wahl. Zum einen hat Lewon TerPetrosyan, der bereits von Oktober 1991 bis 1998 erster Präsident Armeniens gewesen ist, überraschend bei der Wahl 2008 kandidiert. Zum anderen standen massive Vorwürfe wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl und Wahlbetrug im Raum. Dies führte zur Unruhe im Land und unter anderem am 1. März 2008 zu einer Massendemonstration, die mit Polizeigewalt aufgelöst wurde, und anschließender Verhängung des Ausnahmezustandes für 20 Tage. Außerdem kam es in der Folgezeit zu Festnahmen von Oppositionspolitikern und Anhängern Ter-Petrosyans sowie weiteren exzessiven vorläufigen Festnahmen, wobei Festgenommene darüber berichteten, dass sie sich verpflichten sollten, in der Zukunft nicht an Demonstrationen teilzunehmen (vgl. hierzu insbesondere auch: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. Juni 2008 (Stand Mai 2008), Ziffern I und II Nr. 1.1.). Auch in den Lageberichten der Folgejahre (11. August 2009, 8. November 2010, 18. Januar 2012) wird wiederholend auf Repressionen gegenüber oppositionellen Personen bzw. Gruppen hingewiesen.
Diese Darstellungen korrespondieren auch mit den Schilderungen des Klägers zur tatsächlichen Situation und zum allgemeinen politischen Umfeld. Vor diesem Hintergrund sind auch die Angaben des Klägers zu seinen persönlichen Erlebnissen insbesondere im Zusammenhang mit den 2008'er Wahlen glaubhaft. Nach dem entstandenen Gesamteindruck besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Verfolgungshandlung. Der Kläger hat nach Art. 4 Abs. 4 QualRL eine Vorverfolgung glaubhaft dargelegt. Er ist durch die tatsächliche Vermutung der Norm privilegiert, dass seine Furcht vor (erneuter) Verfolgung begründet ist. Zwischen der erlittenen und der befürchteten Verfolgung besteht ein innerer Zusammenhang, da die zugrunde liegende Situation gleichgeblieben ist seit der Ausreise des Klägers aus seinem Heimatstaat. Die tatsächlichen Umstände, auf die sich die Vermutungswirkung von Art. 4 Abs. 4 QualRL erstreckt, sind zum einen eine erneute Verhaftung des Klägers in seinem Heimatstaat als der Opposition zugerechnete Person und zum anderen die während einer (möglichen) erneuten Haftzeit zu erwartenden körperlichen Beeinträchtigungen.
Stichhaltige Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung sprechen, existieren nicht. Die hier in Rede stehenden Umstände in Armenien sind - wie insbesondere auch die Lageberichte des Auswärtigen Amtes zeigen - seit der Ausreise des Klägers unverändert geblieben. Hinzu kommt auch, dass die Angabe des Klägers, dass eine Aufklärung und Aufarbeitung der Ereignisse des 1. März 2008 nicht wirklich stattgefunden haben, sich so aus den Erkenntnissen tatsächlich ergibt.
Grund für die von dem Kläger erlittene Vorverfolgung war gemäß §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylVfG der Verfolgungsgrund der "politischen Überzeugung". Nach den Normen umfasst der Verfolgungsgrund der "politischen Überzeugung" insbesondere dahingehend zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylVfG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Der typische Flüchtling wegen politischer Überzeugung ist jemand, den die Regierung oder eine andere Autorität wegen seiner politischen Überzeugung verfolgt, weil diese als bedrohlich für den eigenen Machtanspruch bewertet wird. Die Verfolgung zielt also auf den (oppositionellen) Status. Der Begriff der politischen Überzeugung schließt nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen andere Verfolger gerichtete Kritik ein (vgl.: Marx, AsylVfG, 8. Aufl. § 3b, Rdnr. 62).
Allerdings genügt es im Allgemeinen nicht, dass ein Antragsteller eine gegen die Regierung gerichtete politische Überzeugung vertritt, wenn nicht zugleich dargelegt wird, dass diese von der Regierung nicht geduldet wird und er deshalb Furcht vor Verfolgung hat. Dies setzt u.a. voraus, dass die Behörden Kenntnis von seiner politischen Überzeugung haben, weil er sie offen geäußert hat oder die Behörden auf andere Weise Informationen über seine politischen Ansichten erlangt haben (vgl.: Marx, a.a.O., § 3b, Rdnr. 74).
Im Weiteren sieht das Gericht auch die gemäß § 3a Abs. 3 AsylVfG erforderliche Verknüpfung zwischen dem Verfolgungsgrund und der Verfolgungshandlung als gegeben an. Der Eingriff in die Freiheit der politischen Überzeugung des Klägers war schwerwiegend genug, um eine taugliche Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG zu sein. Der Kläger war zusätzlich durch die mehrfachen Kollisionen und die Festnahme mit/durch die Sicherheitskräfte verbunden mit Schlägen in seiner körperlichen Integrität verletzt worden. Eine solche Behandlung droht ihm nach den verfügbaren Erkenntnissen bei einer Rückkehr in sein Heimatland erneut.
Die übrigen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen vor. Die Verfolgung ging von staatlichen Akteuren gemäß § 3c Nr. 1 AsylVfG aus, auch wenn im Einzelnen unklar ist, welche Behörde bzw. welche Behörden handelten. Eine inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylVfG ist nicht erkennbar, da die staatlichen Behörden landesweit agieren. Für ein Eingreifen des Ausschlusstatbestandes des § 3 Abs. 4 AsylVfG i. V. m. § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG ist nichts ersichtlich. Schließlich existieren auch keine Akteure, die (ausreichenden) Schutz bieten können, § 3d AsylVfG. Nach den nachvollziehbaren Angaben des Klägers ist die Hilfe durch die Polizei nicht zu erwarten. Dem entsprechen auch die Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes (vgl.: Lagebericht vom 23. Januar 2013), wonach Polizei und Staatsanwaltschaft zurückhaltend auf die mehrfach dokumentierten Verletzungen des Wahlgesetzes reagierten. Es muss daher gerade in diesem Bereich von erheblichen Defiziten ausgegangen werden, was den Schutz politischer Oppositioneller, besonders auch im Zusammenhang mit Wahlen, betrifft. Danach war die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]