VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 16.10.2015 - 6 B 563/15 - asyl.net: M23286
https://www.asyl.net/rsdb/M23286
Leitsatz:

Ob eine Person, die unter einer schweren psychischen Erkrankung leidet, im Kosovo die notwendige Behandlung erhalten kann, ist zweifelhaft.

Es bestehen Zweifel, ob der kosovarische Staat willens und in der Lage ist, Schutz vor Blutrachetaten zu gewähren.

Schlagwörter: Kosovo, Posttraumatische Belastungsstörung, psychische Erkrankung, Blutrache,
Normen: AsylVfG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Antragsteller haben im Rahmen ihrer Anhörungen vor dem Bundesamt geltend gemacht, eine andere Familie habe ihnen in Kosovo Blutrache angedroht; dies gehe darauf zurück, dass der Vater des Antragstellers zu 1. vor vielen Jahren einen Angehörigen der anderen Familie umgebracht habe. Als die Antragsteller nach langjährigem Aufenthalt in Mazedonien im Jahr 2014 nach Kosovo zurückgekehrt seien, sei es zu Problemen mit der anderen Familie gekommen. Unter anderem sei der Antragsteller zu 4. mit einem Messer verletzt worden, die Antragsteller seien wiederholt bedroht worden. Unter Berücksichtigung der Angaben der Antragsteller und der Erkenntnislage ergeben sich ernstliche Zweifel, ob das Bundesamt ihnen zu Recht sowohl die Zuerkennung subsidiären Schutzes als auch Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG verweigert hat. Jedenfalls für die Frage, ob ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus besteht, ist unter anderem zu klären, inwieweit der kosovarische Staat willens und in der Lage ist, Schutz vor Blutrachetaten zu gewähren (vgl. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3d Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AsylVfG). Hierzu liegt eine gefestigte Rechtsprechung noch nicht vor (offengelassen von VG Oldenburg, U. v. 10.04.2015 - 5 A 1688/14 -, juris Rn. 21 ff.; bejaht dagegen von VG Aachen, B. v. 18.07.2014 - 9 L 424/14.A -, juris Rn. 7). Zweifel ergeben sich daraus, dass Blutrache in Kosovo nach der Auskunftslage trotz staatlicher Ahndung "beharrlich betrieben" wird, zum Teil mit blutigen bzw. tödlichen Folgen; die Hemmschwelle, eine Waffe zu benutzen, ist dabei oft sehr niedrig (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.11.2014, S. 17 f.). Der erforderliche effektive Schutz dürfte nur gewährleistet sein, wenn der Staat in der Lage und willens ist, das vorhandene Schutzsystem so zu handhaben, dass die Gefahr, Opfer einer Blutrachetat zu werden, minimal ist (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl., § 3d Rn. 27). Ob dies in Kosovo der Fall ist und konkret auch für die Antragsteller anzunehmen ist, bedarf einer näheren Prüfung. Zu klären wäre des Weiteren, inwieweit im konkreten Fall eine aktuelle Gefährdungslage für alle Antragsteller gegeben ist. Eine verlässliche abschließende Beurteilung ist insoweit anhand der vom Bundesamt erstellten Anhörungsprotokolle nicht möglich. Darüber hinaus ist zu prüfen, inwieweit die Antragsteller einer Gefährdung durch Umsiedlung in andere Landesteile entgehen könnten und ihnen damit jedenfalls interner Schutz im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylVfG zur Verfügung stünde. Dafür wird es vor allem auch auf die Zumutbarkeit einer Umsiedlung sowie auf das Ausmaß der Bedrohungslage ankommen (vgl. VG Oldenburg, a.a.O., Rn. 30 und allgem. dazu VG Braunschweig, U. v. 10.03.2015 - 6 A 240/14 -); diese Fragen sind unter Berücksichtigung der zu ermittelnden Umstände des konkreten Falles zu klären.

Vor diesem Hintergrund sind die Vorträge zum Verfolgungsgeschehen eingehend zu prüfen; das Hauptsacheverfahren ermöglicht darüber hinaus eine ergänzende Befragung der Antragsteller zu den entscheidungserheblichen Gesichtspunkten. Dabei ist auch zu klären, ob die Angaben der Antragsteller glaubhaft sind. Die protokollierten Angaben ermöglichen auch insoweit keine hinreichend sichere abschließende Bewertung. Die eingehende Prüfung, die Auswertung des vorliegenden Erkenntnismaterials und gegebenenfalls weitere Ermittlungen, die voraussichtlich einen erheblichen Zeitrahmen in Anspruch nehmen werden, sind dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Da sich die Anhaltspunkte für eine mögliche Rechtswidrigkeit des angegriffenen Bescheides im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend verlässlich ausräumen lassen, war dem Eilantrag auch angesichts der erheblichen Bedeutung der infrage stehenden Rechtsgüter und der durch eine Aufenthaltsbeendigung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens bestehenden Gefahr irreparabler Folgen stattzugeben (zum Entscheidungsmaßstab s. Funke-Kaiser, AsylVfG, Stand: Mai 2015, § 36 Rn. 91). Die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohungen, die sich im Hinblick auf die Schutzansprüche der nach den bisherigen Angaben unmittelbar bedrohten bzw. bereits verletzten Antragsteller ergeben, erstrecken sich gegenwärtig auch auf die Ansprüche der übrigen Antragsteller. Insoweit ist im Hauptsacheverfahren zu klären, inwieweit eine gegebenenfalls auf Blutrache zurückzuführende Bedrohungslage auch für diese gelten würde.

Darüber hinaus begegnet es ernstlichen Zweifeln, dass das Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf die Republik Kosovo nicht im Hinblick auf die gesundheitliche Situation der Antragstellerin zu 2. festgestellt hat.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn er dort einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt ist. Auch die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlechtert, kann einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach dieser Vorschrift begründen. Dies setzt voraus, dass die dem Ausländer deswegen drohende Gefahr erheblich ist, sein Gesundheitszustand sich also wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland eintreten würde (vgl. BVerwG, U. v. 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383, 387). Die Gefahr kann sich aus fehlenden Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat der Abschiebung ergeben, aber auch aus allen anderen zielstaatsbezogenen Umständen, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Ein Abschiebungsverbot kann daher auch dann entstehen, wenn der Ausländer aus persönlichen Gründen keinen Zugang zu einer im Zielstaat an sich möglichen medizinischen Versorgung erhalten wird, weil er diese beispielsweise nicht finanzieren kann (vgl. BVerwG, U. v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, BVerwGE 127, 33, 39). Unter Anwendung dieser Grundsätze begegnet es gegenwärtig ernstlichen Zweifeln, dass das Bundesamt ein Abschiebungsverbot abgelehnt hat (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG). Aus den vorliegenden ärztlichen Attesten und der aktuellen medizinischen Behandlung der Antragstellerin ergeben sich in Verbindung mit den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnissen über gravierende Defizite der medizinischen Versorgung in Kosovo erhebliche Gründe dafür, an der Richtigkeit der vom Bundesamt getroffenen Entscheidung zu zweifeln.

Nach einer Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 10. Dezember 2013 (Kosovo: Behandlungsmöglichkeiten bei akutem Nierenversagen) sind schwere psychische Erkrankungen im Rahmen des kosovarischen Gesundheitssystems nicht adäquat behandelbar. Erhebliche Defizite weise das Gesundheitssystem insbesondere auch bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen im fachärztlichen Bereich auf. Auch nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes kann es im Kosovo wegen der knappen Haushaltslage im öffentlichen Gesundheitssystem dazu kommen, dass staatlich finanzierte Medikamente, auch wenn sie in der sog. Essential Drug List aufgeführt werden, nicht verfügbar sind (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.11.2014, S. 24). Ob die Antragstellerin zu 2. bei dieser Sachlage in der Republik Kosovo ausreichend behandelbar ist, ohne einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt zu sein, lässt sich gegenwärtig nicht hinreichend sicher beurteilen.

Derzeit gibt es konkrete Hinweise darauf, dass die Antragstellerin zu 2. unter einer behandlungsbedürftigen, schwerwiegenden psychischen Erkrankung leidet. Die vorgelegten ärztlichen Atteste bescheinigen nicht nur den Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung und die Erforderlichkeit einer medikamentösen Behandlung. Aus ihnen ergibt sich auch, dass bei der Antragstellerin jedenfalls eine schwere depressive Episode vorliegt und dass sie wegen der psychischen Erkrankung bereits in einer Fachklinik untergebracht war. Darüber hinaus ist die Antragstellerin nach den Angaben ihrer Prozessbevollmächtigten, an deren Richtigkeit zu zweifeln gegenwärtig kein Anlass besteht, regelmäßig in dem Fachklinikum in Therapie. Auf dieser Grundlage sind eine Reihe von Fragen zu klären, sofern der Antragstellerin nicht bereist aufgrund der vorgetragenen Bedrohungslage in Kosovo Abschiebungsschutz zu gewähren ist. So ist derzeit beispielsweise unklar, unter welcher psychischen Erkrankung die Antragstellerin leidet, ob die Erkrankung allein auf die Situation der Antragstellerin im Bundesgebiet zurückzuführen ist, ob es sich dabei um eine unter Berücksichtigung der Auskunftslage "schwere psychische Erkrankung" handelt und welche Behandlung im Einzelnen erforderlich ist, um eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben der Antragstellerin abzuwenden. Diese Fragen werden sich nur durch eine fachärztliche Stellungnahme klären lassen. Sofern sich ergibt, dass eine adäquate Behandlung im Rahmen des öffentlichen Gesundheitssystems in Kosovo nicht gewährleistet ist, ist zu prüfen, ob die notwendigen Leistungen nicht durch das Rückkehrerprojekt URA II oder im Rahmen anderer Hilfsprogramme sichergestellt werden können (vgl. dazu z.B. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.11.2014, S. 29, 26; Pro Asyl / Flüchtlingsrat Nds., Bericht v. Juli 2012, S.4).

Aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. September 1997 (10 C 8.07, BVerwGE 129, 251 = juris) lässt sich nicht ableiten, dass die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens als unzureichend zu qualifizieren und weitere Ermittlungen abzulehnen sind. Das Urteil befasst sich mit den Anforderungen, die im Klageverfahren an die Substanziierung eines Sachverständigenbeweisantrages zum Vorliegen einer behandlungsbedürftigen posttraumatischen Belastungsstörung zu stellen sind (a.a.O., juris Rn. 15). Insoweit gelten jedoch zum einen andere Maßstäbe als für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 36 Abs. 3 und 4 AsylVfG (vgl. VG Braunschweig, B. v. 26.03.2012 - 6 B 61/12 -, www. rechtsprechung. niedersachsen.de = juris Rn. 10). Zum anderen ergeben sich die Zweifel an einer hinreichenden, eine Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausschließenden Behandelbarkeit der Antragstellerin im Herkunftsstaat aus den vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen in Verbindung mit der aktuellen (medizinischen) Behandlung der Antragstellerin und dem vorliegenden Erkenntnismaterial über die medizinische Versorgung in Kosovo. Dafür kommt es nicht entscheidend darauf an, ob eine posttraumatische Belastungsstörung tatsächlich vorliegt. Die aufgezeigten Zweifel können daher nicht allein mit dem Hinweis darauf beseitigt werden, dass aufgrund der ärztlichen Atteste weitere Ermittlungen zur Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht angezeigt sind. [...]