BlueSky

VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 30.10.2015 - 14 K 249.13 V - asyl.net: M23346
https://www.asyl.net/rsdb/M23346
Leitsatz:

Wird eine Beistandsgemeinschaft zur Pflege der an Demenz erkrankten Mutter bereits zeitweilig in Deutschland gelebt, würde eine dauerhafte Unterbringung in einem Pflegeheim im Herkunftsland aufgrund der fortschreitenden Demenz ohne familiäre Betreuungsmöglichkeiten eine außergewöhnliche Härte darstellen.

Schlagwörter: nationales Visum, Sonstige Familienangehörige, familiäre Beistandsgemeinschaft, Demenz, außergewöhnliche Härte, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 36,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Klägerin Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums. Nach Überzeugung des Gerichts ist sie nämlich krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage, im Heimatland ein eigenständiges Leben zu führen, sondern ist bei bereits fortgeschrittenem Autonomieverlust auf ständige familiäre Lebenshilfe angewiesen, welche im Rahmen der regelmäßigen visumsfreien Aufenthalte der Klägerin im Bundesgebiet durch ihre hier lebenden Angehörigen schon seit Jahren fortlaufend und in erheblichem Umfang tatsächlich erbracht wird. Eine Fortsetzung des bisher praktizierten, mit wiederholten Ortswechseln sowie einem Wechsel der familiären Pflegepersonen einhergehenden Betreuungsmodells wird jedoch den nachvollziehbaren Bedürfnissen der Klägerin qualitativ nicht mehr gerecht. Ebenso wenig kann sie darauf verwiesen werden, sich unter endgültiger Aufgabe der im Bundesgebiet regelmäßig phasenweise bereits gelebten Beistandsgemeinschaft zukünftig nur noch im Heimatland durch professionelle Pflegekräfte versorgen zu lassen. Hierzu im Einzelnen:

Nach dem Bericht des Facharztes für Neurologie und Leitenden Oberarztes der Klinik für Neurologie des Klinikums Frankfurt Höchst Dr. ... vom 1. Dezember 2014 (Blatt 223 f. der Gerichtsakte), welcher die Klägerin am 28. November 2014 ambulant untersucht hat, leidet die Klägerin unter einer mittelschweren senilen Demenz vom Alzheimertyp. Sie habe multiple schwergradige kognitive Einschränkungen, ihre Auffassung von Aufgabenstellungen sei deutlich erschwert und es liege eine Agraphie (Schreibunfähigkeit) vor. Beim Mini-Mental-Status-Test habe sie 17 von 30 möglichen Punkten erreicht und beim Ohrentest eine schwergradige visuell-räumliche Desorganisation gezeigt. Der Facharzt für Innere Medizin und Vertrauensarzt der deutschen Botschaft in Belgrad Dr. ... diagnostizierte bei der Klägerin nach Untersuchung am 23. Februar 2015 in seinem "ärztlichen Gutachten" vom 25. Februar 2015 (Blatt 240 ff. der Gerichtsakte) neben verschiedenen anderen körperlichen Erkrankungen ebenfalls "Dementio senilis - Alzheimer in obs.". Er führte u.a. aus, dass die Klägerin an sie gestellte Fragen nur langsam, unsicher und oft nicht korrekt beantwortet habe und kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei ihr um eine Patientin mit "betonten demento-senilen Beschwerden" handele. Die vorgenannten Diagnosen stehen im Einklang mit den bereits am 19. November 2012 und 18. Juli 2013 vom Facharzt des Diagnostisch-Poliklinischen Zentrums der Militärmedizinischen Akademie in Belgrad Dr. ... gestellten (Blatt 65 ff. der Gerichtsakte), wonach die Klägerin an einem Demenzsyndrom der mittelschweren Stufe mit Beeinträchtigungen der kognitiven und mnestischen Fähigkeiten, insbesondere der raum-zeitlichen Orientierung, der Aufmerksamkeit, des Denkvermögens und des Gedächtnisses leidet.

Obgleich die vorstehend aufgeführten ärztlichen Äußerungen teilweise wenig detailliert sind - insbesondere hinsichtlich der angewandten diagnostischen Verfahren und der im Einzelnen erhobenen Befunde und den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8.07 -, juris Rn. 15) definierten Anforderungen an aussagekräftige Atteste damit nur bedingt genügen, hat das Gericht im Ergebnis dennoch keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die Klägerin entsprechend den von drei verschiedenen Ärzten zu unterschiedlichen Zeitpunkten gestellten Diagnosen tatsächlich demenziell erkrankt ist, sich im mittleren Stadium der allgemeinkundig progredient verlaufenden Erkrankung befindet und krankheitsbedingt bereits unter erheblichen Einbußen ihrer mentalen und lebenspraktischen Fähigkeiten leidet. Dieser Umstand und der daraus resultierende alltägliche Hilfebedarf der Klägerin werden im Übrigen - soweit ersichtlich - auch von der Beklagten und der Beigeladenen gar nicht ernsthaft in Zweifel gezogen.

Nach den ersichtlich auf den Angaben der Angehörigen beruhenden schriftsätzlichen Ausführungen der Klägerseite sowie den glaubhaften Schilderungen von Alltagssituationen durch die Tochter, den Sohn und die Schwiegertochter der Klägerin im Rahmen der informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung ist die Klägerin krankheitsbedingt zu einem eigenständigen Leben nicht mehr in der Lage und bedarf der täglichen Betreuung. Wegen ihrer Desorientiertheit kann sie die Wohnung nicht ohne Begleitung verlassen und demzufolge auch nicht selbständig für den Einkauf von Lebensmitteln und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs sorgen. Ihre Nahrung vermag sie sich nicht selbst zuzubereiten. Wie aus den glaubhaften Angaben der Angehörigen in der mündlichen Verhandlung zu schließen ist, resultiert diese Unfähigkeit abgesehen von gewissen Problemen mit der linken Hand (Versteifung des Handgelenks in abgeknickter Position) primär daraus, dass die Klägerin selbst anspruchslose Alltagssituationen nicht mehr richtig einschätzen und ihr eigenes Tun nicht hinreichend kontrollieren kann sowie zu planvollem Agieren nicht mehr in der Lage ist. Sie "vergisst", was sie gerade getan hat oder noch tun muss und was kurz zuvor besprochen wurde. Fehlhandlungen der Klägerin, wie etwa ein auf die eingeschaltete Herdplatte gestellter elektrischer Wasserkocher, führen zu potentiell gefährlichen Situationen. Nahrung kann sie zwar grundsätzlich noch selbständig aufnehmen, jedoch "vergisst" die nach den Feststellungen des Vertrauensarztes Dr. ... in einem schlechten Allgemein- und Ernährungszustand befindliche Klägerin, ob sie bereits gegessen oder getrunken hat. Wie die Schwiegertochter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung anschaulich geschildert hat, steht die Klägerin - sofern die Angehörigen dem nicht entgegenwirken - beim gemeinsamen Essen oder Kaffeetrinken vorzeitig vom Tisch auf, ohne (ausreichend) Nahrung oder Flüssigkeit zu sich genommen zu haben. Aus demselben Grund ist die Klägerin nachvollziehbarer Weise nicht in der Lage, für die Beschaffung und regelmäßige Einnahme der ihr verschriebenen Medikamente (vgl. die Atteste von Dr. ...) selbst Sorge zu tragen. Die Toilette kann die Klägerin alleine aufsuchen, jedoch bedarf sie bei der täglichen Körperpflege sowie dem An- und Auskleiden den Angaben der Angehörigen zufolge der Anleitung und Hilfestellung, weil sie anderenfalls das Notwendige zu tun "vergisst". Die eigenverantwortliche Tagesgestaltung der muslimischen Klägerin beschränkt sich den Angaben ihrer Tochter zufolge auf exzessives Beten, während alle anderen Aktivitäten (Spaziergänge, Ausflüge, Teilnahme am Spiel der Enkelkinder, soweit der Klägerin mental möglich) von den Angehörigen initiiert und ermöglicht werden müssen. Diese vermeiden es den Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge, die Klägerin auch nur für kurze Zeit alleine in der Wohnung zu lassen, weil sie darauf mit Angst und Unruhe reagiert.

Obgleich die Klägerin somit weder bettlägerig noch aus sonstigen Gründen zwingend auf eine Pflege "rund um die Uhr" angewiesen ist, benötigt sie doch im Alltag in erheblichem Umfang familiäre Lebenshilfe. Diese wurde den - wiederum weder von der Beklagten noch der Beigeladenen in Zweifel gezogenen - klägerischen Angaben zufolge von den Angehörigen seit 2010 durchgehend in der Weise geleistet, dass die Klägerin aufs Jahr gerechnet insgesamt ungefähr sechs Monate bei ihrer damals noch in Bosnien lebenden, Mitte 2014 allerdings nach Österreich verzogenen Tochter, sowie vier bis sechs Monate beim Sohn in Deutschland und die restliche Zeit bei der Tochter in der Türkei verbrachte. Wie die in der mündlichen Verhandlung befragten Angehörigen ausführlich und nachvollziehbar geschildert haben, erweist sich diese Art der familiären Pflege und Betreuung jedoch als (zunehmend) unzuträglich für das Wohlbefinden und die gesundheitliche Verfassung der Klägerin. Diese reagiere schon im Vorfeld jeder bevorstehenden Ortsveränderung und dem damit einhergehenden Wechsel der familiären Bezugspersonen tagelang mit großer Unruhe, regelrechten Angstzuständen und sich in ständigem Seufzen äußerndem seelischen Leid. Sie könne zwar mit den Namen ihrer fünf Kinder noch etwas anfangen und, erkenne diese bei der persönlichen Begegnung wieder, jedoch erinnere sie sich nicht an die räumliche und familiäre Situation, welche sie bei den jeweiligen Kindern erwarte. Bereits kleine Abweichungen in den gewohnten Abläufen - etwa wenn die Klägerin in Deutschland auf Spaziergängen einmal nicht, wie gewohnt, von ihrer Tochter sondern ausnahmsweise von ihrer Schwiegertochter begleitet werde - versetzten die Klägerin in Unruhe. Umso mehr gelte dies für die großen Veränderungen, die mit dem wiederholten Wechsel zwischen Deutschland, Bosnien/Österreich und der Türkei einhergingen. Die Klägerin benötige jeweils zehn bis vierzehn Tage, um sich einigermaßen auf die für sie jedes Mal gänzlich neue Situation einzustellen.

Diese Angaben stehen im Einklang mit den Ausführungen in dem Attest des Dr. ... vom 18. Juli 2013, wonach der häufige Umgebungswechsel zu einer Verschlechterung des Demenzsyndroms führe und sich sehr schlecht auf den psychophysischen Zustand der Klägerin auswirke, während durch den ständigen Aufenthalt bei der Familie (in Deutschland) das Fortschreiten der Erkrankung verzögert werden könne. Auch der Vertrauensarzt der Botschaft Dr. … vertrat in seinem Gutachten vom 25. Februar 2015 die Auffassung, dass durch die Übersiedlung zu den Kindern nach Deutschland der Gesundheitszustand der Klägerin verbessert werden könne. Ob die von den beiden Ärzten geäußerten Ansichten zu der Verlangsamung des Fortschreitens der Demenz oder sogar der Verbesserung des mentalen Zustands der Klägerin gesicherter medizinischer Erkenntnis entsprechen, bedarf aus Sicht des Gerichts keiner Klärung. Denn jedenfalls ist es allgemeinkundig, dass unter Demenz Leidende wegen den mit der Erkrankung typischerweise verbundenen Symptomen wie Verwirrtheit, Desorientiertheit, Angst- und Unruhezustände in besonderem Maße auf ein festes, von Veränderungen möglichst frei gehaltenes räumliches und persönliches Bezugssystem angewiesen sind. Es erscheint daher ohne weiteres nachvollziehbar und glaubhaft, dass die Klägerin erheblich unter dem bisher praktizierten "Pendeln" zwischen ihren in drei verschiedenen Ländern lebenden Kindern leidet und diese Form der Betreuung mithin nicht (mehr) ihren berechtigten pflegerischen Bedürfnissen entspricht.

Wie die Beklagte und die Beigeladene im Prinzip zutreffend geltend machen, lassen sich die mit dem wiederholten Ortswechsel verbundenen gesundheitlichen Unzuträglichkeiten allerdings dadurch vermeiden, dass die Klägerin - anstatt zwischen ihren Kindern hin und her zu reisen - in Serbien in einem Alten- oder Pflegeheim untergebracht oder in ihrer Eigentumswohnung in Belgrad von ein oder zwei festen Pflegepersonen betreut wird. Als Pflegepersonen dürften dann allerdings die Angehörigen der Klägerin nicht mehr in Betracht kommen, denn diese sind jeweils durch Ehepartner, die eigene und/oder die existenzsichernde Berufstätigkeit der Ehepartner und/oder das Vorhandensein minderjähriger Kinder, welche überwiegend die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Aufenthaltsstaates haben, in einer Weise an diesen gebunden, dass ihnen die Rückkehr ins Heimatland zum Zwecke der Pflege der Klägerin nicht mehr zumutbar sein dürfte. Somit bestünden für die Klägerin in Serbien bei realistischer Betrachtung nur die von der Beklagten aufgezeigten Möglichkeiten der Heimunterbringung oder der Beschäftigung von gut ausgebildetem sowie finanziell durchaus erschwinglichem Pflegepersonal, das die Klägerin in ihrer eigenen Wohnung betreut.

Generell ist es nach der eingangs dargestellten höchstrichterlichen Rechtsprechung auch nicht unzumutbar, Pflegebedürftige mit Nachzugswunsch auf derartige mit den kulturellen Gepflogenheiten im Heimatland im Einklang stehende Möglichkeiten zu verweisen, solange diese im jeweiligen Einzelfall den anerkennenswerten Bedürfnissen der Betroffenen qualitativ gerecht werden können. Im vorliegenden Fall besteht jedoch die Besonderheit, dass die Klägerin das verfahrensgegenständliche Visum nicht begehrt, um sich erstmals in die Pflege und Betreuung ihrer in Deutschland lebenden Familienangehörigen zu begeben, sondern vielmehr die familiäre Beistandsgemeinschaft insoweit bereits seit Jahren - wenn auch nicht ununterbrochen, sondern nur während der zulässigen visumsfreien Aufenthalte der Klägerin von bis zu 90 Tagen pro Halbjahr - im Bundesgebiet gelebt wird. Unter Berücksichtigung der eingangs zitierten ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Artikels 6 Abs. 1 GG würde es nach Auffassung der Gerichts eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bedeuten, wenn die Klägerin angesichts ihres die Fortsetzung des bisherigen Betreuungsmodells nicht mehr gestattenden Gesundheitszustands nunmehr erstmals darauf verwiesen werden würde, sich unter Aufgabe der im Bundesgebiet zeitweise bestehenden Beistandsgemeinschaft mit ihren hier lebenden Angehörigen in die alleinige Pflege durch außenstehende Dritte im Heimatland zu begeben. Es liegt auf der Hand, dass die seit Jahren an die Betreuung durch Familienangehörige gewöhnte Klägerin eine solche Veränderung als gravierenden Einschnitt, erheblichen Verlust an Lebensqualität und ein "Im-Stich-gelassen-werden" durch die Angehörigen empfinden würde, zumal sie krankheitsbedingt nicht in der Lage sein dürfte, die Gründe dafür rational zu erfassen. Ein solches Ergebnis wäre mit der aus der wertentscheidenden Grundsatznorm des Artikels 6 Abs. 1 GG folgenden Pflicht, bei der Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der außergewöhnlichen Härte die familiären Bindungen zwischen den sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhaltenden Personen und dem oder der Aufenthaltsbegehrenden angemessen zu berücksichtigen, nicht vereinbar. Denn die in Deutschland lebende Familie der Klägerin erfüllt hier - wie erörtert - im Kern bereits die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil die Klägerin auf die Lebenshilfe ihrer hiesigen Angehörigen angewiesen ist und sich diese Hilfe nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt.

Die von der Beklagten schriftsätzlich geäußerten - in der mündlichen Verhandlung allerdings wohl nicht mehr aufrechterhaltenen - Zweifel daran, ob die Klägerin angesichts der Vollzeit-Berufstätigkeit ihres Sohnes und der Schwiegertochter in Deutschland überhaupt von ihren Familienangehörigen gepflegt werden könnte, teilt das Gericht nicht. Wie die Schwiegertochter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft berichtet hat, wurde die Klägerin bisher bei ihren regelmäßigen Aufenthalten in Deutschland ausschließlich durch Familienangehörige gepflegt. Tagsüber wurde die Betreuung unter Berücksichtigung der Arbeitszeiten der im Schichtsystem tätigen Schwiegertöchter zwischen den in Frankfurt a.M. lebenden nicht berufstätigen Töchter … und … sowie der Schwiegertochter aufgeteilt und wochentags ab 18.00 Uhr sowie an den Wochenenden allein oder ergänzend vom Sohn der Klägerin übernommen. Nachts standen Sohn und Schwiegertochter, wenn erforderlich, zur Unterstützung der mit ihnen zusammenlebenden Klägerin zur Verfügung. In gleicher Weise soll nach den Angaben der Angehörigen auch zukünftig verfahren werden. Die Einbeziehung Dritter in die Pflege der Klägerin sei weiterhin nicht beabsichtigt. Das Gericht sieht keinen greifbaren Anlass, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln. [...]