VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 03.11.2015 - Au 6 K 15.30373 - asyl.net: M23359
https://www.asyl.net/rsdb/M23359
Leitsatz:

Die Familienangehörigen eines Regierungsbeamten in Afghanistan werden politisch verfolgt, wenn Taliban sein Kind entführt hatten und die Familie erneut bedroht haben. Der afghanische Staat ist nicht in der Lage, seine Bürger vor den Taliban zu schützen.

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, interne Fluchtalternative, Entführung, Lösegeld, Regierungsbeamte,
Normen: AsylG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

b) Gemessen an diesen Maßstäben ist das Gericht der Überzeugung, dass der Klägerin wegen der politischen Überzeugung, die ihrem Ehemann und zugleich auch der Klägerin selbst von den Taliban zugeschrieben werden, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, gegen die der afghanische Staat nicht schützen kann.

aa) Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung und der informatorischen Befragung der Klägerin und ihres Sohnes davon überzeugt, dass sich das von ihnen bereits bei der Anhörung vor dem Bundesamt geschilderte Geschehen in Afghanistan tatsächlich wie von ihnen dargestellt abgespielt hat und auch die Klägerin vorverfolgt ausgereist ist. Die Klägerin und ihr Sohn haben ihre Verfolgungsgründe im Rahmen ihrer informatorischen Befragung durch das Gericht substantiiert, schlüssig und mit zahlreichen individuellen Einzelheiten geschildert. Kleinere Widersprüche, die nicht das Kerngeschehen betrafen, konnten sie auf Nachfrage des Gerichts weitgehend ausräumen. Kleinere zeitliche Unstimmigkeiten beruhen nach Auffassung des Gerichts darauf, dass seit den Erlebnissen schon einige Zeit verstrichen ist und für die Klägerin die genauen zeitlichen Abläufe von nicht so entscheidender Bedeutung sind, als dass sie sich diese bis zur absoluten Genauigkeit gemerkt hätte. Deshalb bestehen für das Gericht insgesamt keine Zweifel daran, dass der Sohn der Klägerin am 27. Dezember 2013 tatsächlich von den Taliban entführt worden ist. Es sieht keinen Grund, an den Angaben der Klägerin und ihres Sohnes zu zweifeln. Der Sohn der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend geschildert, wie das Fahrzeug, mit dem er von einem Bodyguard und einem Chauffeur zur Schule gebracht werden sollte, auf einer Kreuzung von zwei Fahrzeugen in die Zange genommen worden und zum Anhalten gebracht worden war. Er berichtete weiter detailliert davon, wie sein Bodyguard ihn angewiesen hatte, seinen Kopf herunterzunehmen und sich nicht zu rühren. Daraufhin ist sein Bodyguard ausgestiegen und wurde von den Entführern erschossen. Von der linken Seite wurde das Auto geöffnet und ihm ein Tuch ins Gesicht gedrückt. Er ist dann ohnmächtig geworden und wurde an einen unbekannten Ort verbracht. Als er aufwachte, befand er sich gefesselt auf einem Stuhl. Nachdem er eine Woche festgehalten und am Arm sowie am Unterschenkel mit einem Messer verletzt worden war, wurde er nach einer Lösegeldzahlung des Ehemanns der Klägerin in Höhe von 200.000,00 US-Dollar freigelassen. Nachdem die Familie der Klägerin bereits vor der Entführung einen Drohbrief der Taliban erhalten hatte, weil der Ehemann der Klägerin für die Regierung arbeitete, bekam die Familie der Klägerin einige Monate nach der Freilassung des Sohnes abermals einen Drohbrief der Taliban. Bei der Schilderung des gesamten Geschehens neigten sowohl die Klägerin als auch ihr Sohn in keiner Weise zu Übertreibungen, schilderten den einzelnen Geschehensablauf anschaulich sowie detailliert und gaben keinerlei Anlass, an ihrem Vorbringen zu zweifeln. Außerdem war der Klägerin und ihrem Sohn sichtlich anzumerken, dass sie die erlebte Entführung auch heute noch schwer belastet. Ihre Angaben bekräftigten sie mit der Vorlage zahlreicher Dokumente. So legte der Bevollmächtigte der Klägerin eine Vermisstenanzeige der afghanischen Polizei vom 27. Dezember 2013, eine staatsanwaltschaftliche Bescheinigung sowie einen Polizeibericht vom 2. Januar 2014 vor. Darüber hinaus wurde auch eine Bescheinigung des afghanischen Ministeriums für Angelegenheiten der Flüchtlinge vom 28. September 2014 vorgelegt, wonach der Ehemann der Klägerin vom 16. Oktober 2012 bis zum 2. Juli 2013 im Ministerium beschäftigt gewesen war. Ebenso vorgelegt wurde ein Drohbrief der Taliban, in dem dem Ehemann der Klägerin damit gedroht worden war, dass ein Familienmitglied, insbesondere sein Sohn entführt werde, weil er als Berater für einen Minister tätig gewesen sei. Zwar ist davon auszugehen, dass der Beweiswert von Dokumenten aus Afghanistan sehr begrenzt ist, weil es in Afghanistan echte Dokumente unwahren Inhalts in erheblichem Umfang gibt (s. hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 2.3.2015, Stand Oktober 2014, S. 25 - Lagebericht). Nichts desto trotz können im Asylverfahren vorgelegte Dokumente aus Afghanistan einen glaubhaften Vortrag stützen. Demzufolge sind die zahlreichen vorgelegten Unterlagen geeignet, den im Übrigen glaubhaften Vortrag der Klägerin und ihres Sohnes zu untermauern. Damit steht zur Überzeugung des Gerichts insgesamt fest, dass die Klägerin Afghanistan wegen einer akuten Bedrohung durch die Taliban vorverfolgt verlassen hat. Es ist nicht nur der Sohn der Klägerin entführt worden, sondern es stand aufgrund des Drohbriefs und der Tätigkeit des Ehemanns der Klägerin für die Regierung konkret zu befürchten, dass auch die Klägerin selbst (als nächste) von den Taliban hätte entführt werden können.

bb) Die Verfolgungshandlungen knüpfen im Fall der Klägerin auch an einen Verfolgungsgrund an. Der Klägerin sowie dessen ganzer Familie wird wegen der Betätigung des Ehemanns für die Regierung von den Taliban eine politische Überzeugung zugeschrieben. Ob die Klägerin bzw. deren Ehemann tatsächlich ein Gegner der Taliban ist, kann dahinstehen, weil es ausreichend ist, dass ihr das asylerhebliche Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Dies ergibt sich aber zweifelsfrei aus dem von der Klägerin vorgelegten Drohbrief der Taliban. In diesem Brief wurde dem Ehemann der Klägerin vorgeworfen, dass er für und mit den Ungläubigen arbeite. Er wurde explizit aufgefordert, die Heiligen Kämpfer zu unterstützen. Andernfalls werde er selbst oder ein Familienmitglied bestraft.

cc) Bei der drohenden Gefahr durch die Taliban handelt es sich zwar nicht um eine Gefahr, die von Vertretern des afghanischen Staates ausgeht. Allerdings ist davon auszugehen, dass die afghanischen Behörden nicht in der Lage sind, die Gefahr durch angemessenen Schutz zu beseitigen. Insbesondere die afghanische Polizei ist nach aktuellen Erkenntnissen nicht fähig, wirksamen Schutz zu bieten (ebenso NdsOVG, U.v. 28.7.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 31). Die afghanische Bevölkerung begegnet der Polizei in weiten Teilen des Landes mit großem Misstrauen, weil sie von Netzwerken der Bürgerkriegsmilizen ebenso wie von kriminellen Netzwerken durchsetzt ist. Deshalb ist die Polizei zum Teil auch nicht unter der Kontrolle der Regierung. Die weit verbreitete Korruption unter Polizeibeamten trägt sein Übriges hierzu bei (ausführlich hierzu Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 22. Juli 2014, Afghanistan: Sicherheit in Kabul, S. 12 f.).

dd) Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für die Klägerin nicht. Eine Rückkehr in ihren Heimatort ist ihr wegen der bereits erlittenen Verfolgung nicht möglich. Darüber hinaus droht der Klägerin die Verfolgung auch landesweit. Nachdem der Ehemann der Klägerin eine herausgehobene Tätigkeit für die afghanische Regierung ausgeübt hatte und zugleich bereits bei einer ersten Entführung des Sohnes ein erhebliches Lösegeld in Höhe von 200.000,00 US-Dollar von den Taliban erpresst werden konnte, ist davon auszugehen, dass die Taliban ein gesteigertes Interesse daran haben, die Familie der Klägerin ausfindig zu machen. Bestätigt wird dies auch durch den kurz vor der Ausreise erhaltenen weiteren Drohbrief der Taliban. Aus den gleichen Gründen hält sich auch der Ehemann der Klägerin nur noch wenige Tage im Monat in Afghanistan auf und wird zudem ständig von mehreren Personenschützern bewacht. Wenn er in Kabul mit dem Flugzeug landet, wird er von einem gepanzerten Fahrzeug abgeholt. Auch diese Vorkehrungen verdeutlichen, dass die befürchtete Verfolgung selbst in Kabul besteht. Dass es den Taliban auch gelingen kann, die Klägerin an einem anderen Ort in Afghanistan aufzuspüren, ist nicht unwahrscheinlich. Die Klägerin kann nicht darauf vertrauen, dass die Bedrohungen durch die Taliban nicht bis nach Kabul reichen. Sie hätte vielmehr damit zu rechnen, dass die Taliban sie früher oder später in Kabul ausfindig machen und bedrohen würden. Davon ist das Gericht aufgrund des vorliegenden Erkenntnismaterials überzeugt. Sowohl in Kabul als auch in anderen Städten Afghanistans bestehen Netzwerke der Taliban, auch wenn die Orte nicht im Hauptgebiet der bewaffneten Anschläge und Angriffe der Taliban gelegen sind (NdsOVG, U.v. 28.7.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 34). So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe, dass die Taliban über ein landesweit verzweigtes Netz an Informanten verfügen und damit beispielsweise auch in Kabul die Möglichkeit haben, Druck auszuüben, einzuschüchtern, zu entführen oder, zu töten. In Kabul überlappen sich dabei kriminelle Strukturen und Netzwerke von Aufständischen, wobei erstere oft im Auftrag der letzteren handeln. Mit Hilfe geheimer Absprachen zwischen Aufständischen und korrupten Regierungsmitarbeitern sind im Laufe der Jahre die kriminellen Netzwerke in Kabul und Umgebung immer stärker geworden. In Kooperation mit korrupten Beamten und kriminellen Netzwerken sowie durch Einschüchterungen haben Aufständische in und um Kabul Schattenregierungen aufgebaut (ausführlich hierzu Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 22. Juli 2014, Afghanistan: Sicherheit in Kabul, S. 4 ff.). Dass in Fällen wie dem der Klägerin, in denen die Taliban ein gesteigertes Interesse haben, eine Person ausfindig zu machen, selbst in Kabul eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht, steht daher zur Überzeugung des Gerichts fest (ebenso VG Meiningen, U.v. 20.11.2014 - 8 K 20119/13 Me - juris Rn. 26). Zugleich wäre es der Klägerin auch in Kabul nicht möglich, mit Hilfe privater Personenschützer sicher leben zu können. Zwar hat der Sohn der Klägerin in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass es seinem Vater aus finanziellen Gründen ohne weiteres möglich wäre, ihnen in Kabul einen Leibwächter zur Verfügung zu stellen. Doch auch diese zusätzliche Sicherheitsvorkehrung würde der Klägerin und ihrem Sohn keinen ausreichenden Schutz gewährleisten, weil bereits die erste Entführung des Sohnes der Klägerin gezeigt hat, dass die Taliban ohne weiteres in der Lage sind, Leibwächter auszuschalten. Die Klägerin kann daher auch unter Berücksichtigung der besonderen, insbesondere guten finanziellen Verhältnisse der Familie, nicht auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden. [...]