OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27.06.2002 - 8 A 4782/99.A - asyl.net: M2343
https://www.asyl.net/rsdb/M2343
Leitsatz:

1. Kurden unterliegen in keinem Landesteil der Türkei einer Gruppenverfolgung; dessen ungeachtet steht ihnen in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen.

2. Eine inländische Fluchtalternative haben auch diejenigen Kurden, die in Ostanatolien im Zuge kollektiver Maßnahmen zwar von asylerheblicher Verfolgung betroffen waren, dabei aber nicht in einen auf ihre Person bezogenen individualisierten Separatismus-Verdacht geraten sind.

3. Von politischer Verfolgung in der gesamten Türkei sind verstärkt Personen bedroht, die in den Verdacht geraten, der kurdischen Sprache und Kultur sowie einem wie auch immer gearteten kurdischen Selbstverständnis Ausdruck verleihen zu wollen.

4. Kurden droht im Allgemeinen weder bei der Erfüllung ihrer Wehrpflicht noch im Zusammenhang mit einer etwaigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht in der Türkei politische Verfolgung.

5. Exilpolitische Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland begründen ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko für türkische Staatsangehörige im Allgemeinen nur, wenn sich der Betreffende politisch exponiert hat. Gegebenenfalls ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu ermitteln, ob der Asylbewerber in so hinreichendem Maße als Ideenträger oder Initiator in Erscheinung getreten ist, dass von einem Verfolgungsinteresse des türkischen Staates auszugehen ist.

6. Verfolgungsgefährdet sind grundsätzlich auch Vorstandsmitglieder eines eingetragenen exilpolitischen Vereins, wenn dieser als von der PKK dominiert oder beeinflußt gilt oder von türkischer Seite als vergleichbar militant staatsfeindlich eingestuft wird. Gegenteilige Anhaltspunkte können sich etwa daraus ergeben, dass der Asylbewerber als Vorstandsmitglied nicht mehr als nur untergeordnete Aufgaben zu erfüllen hat; entsprechende Anhaltspunkte bestehen auch bei unverhältnismäßig großen Vereinsvorständen, deren Mitglieder auffällig häufig wechseln.

7. Sippenhaft droht im Allgemeinen nur nahen Angehörigen (Ehegatten, Eltern, Kindern ab 13 Jahren und Geschwistern) von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation.

8. Aleviten müssen in der Türkei keine an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfende Gruppenverfolgung befürchten.

9. Asylbewerber, denen politische Verfolgung nicht aus sonstigen Gründen droht, müssen auch bei der Abschiebung in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung befürchten.

10. Die wirtschaftliche Lage oder die Situation im Gesundheitswesen der Türkei rechtfertigen im Allgemeinen die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht. In Ausnahmefällen - z. B. bei mittellosen alleinstehenden Frauen, ggf. mit Kindern - bedarf es einer ins Einzelne gehenden Sachverhaltsaufklärung unter Ausschöpfung aller Besonderheiten des Einzelfalles.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Aleviten, Gruppenverfolgung, Dorfzerstörung, Razzien, Festnahme, Parteien, Verfolgungsdichte, Religiös motivierte Verfolgung, Amtswalterexzesse, Folter, Terrorismusbekämpfung, Religiös motivierte Verfolgung, Wehrdienstentziehung, Sippenhaft, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Vereine, Funktionäre, Überwachung im Aufnahmeland, Strafnachrichtenaustausch, Kirchenasyl, Wanderkirchenasyl, Publikationen, Medienberichterstattung, MED-TV, Offener Brief, Interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Drittstaatenregelung, Einreise, Beweislast
Normen: GG Art. 16a
Auszüge:

 

Dass die Kläger dem kurdischen Volk angehören, unterliegt keinen durchgreifenden Zweifeln. Die Zuordnung eines türkischen Asylbewerbers zu dieser Volksgruppe ist jedenfalls dann nicht weiter überprüfungsbedürftig, wenn dieser aus einer ausschließlich von Kurden bewohnten Provinz stammt oder die kurdische Sprache beherrscht, da eine Kenntnis des Kurdischen bei Türken nur in seltenen Fällen vorhanden ist. Beherrscht ein Asylbewerber die kurdische Sprache nicht oder nur mangelhaft, rechtfertigt dies jedoch nicht die Vermutung, dass er der ethnischen Gruppe der Kurden nicht angehöre. Denn in Folge der ausschließlichen Verwendung der türkischen Sprache im gesamten Bildungswesen hat das Türkische etwa bei kurdischen Familien, deren Bildungsniveau über dem Durchschnitt liegt, das Kurdische als Umgangssprache in vielen Fällen abgelöst (Rumpf, Gutachten vom 01. Februar 1998 an VG Berlin, s. 82 f.; Strohmeier/Yalcin-Heckmann, Die Kurden-Geschichte, Politik, Kultur, München, 2000, S. 28 ff.; OVG NRW, Urteil vom 03. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -, S. 16 ff.).

In derartigen Fällen muss gegebenenfalls Beweis über die ethnische Zugehörigkeit erhoben werden, wenn diese entscheidungserheblich ist.

Eine grundlegende Entspannung, die die Gefahr asylerheblicher Übergriffe der Sicherheitskräfte in relevantem Ausmaß verringern würde, ist indes nicht festzustellen. Die Menschenrechtspraxis, insbesondere die Situation in den Polizeiwachen in Ostanatolien und in den Großstädten der Westtürkei, hat sich trotz der genannten Bemühungen zur Vorbereitung des EU-Beitritts in den vergangenen Jahren nicht wesentlich verbessert. Auch die von der Menschenrechtsstiftung TIHV in ihrem Jahresbericht für das Jahr 2001 genannten Zahlen belegen, dass sich die Lage in der Türkei trotz der immer engagierter geführten Diskussionen um Demokratie und Menschenrechte und trotz einzelner Verbesserungen der rechtlichen Grundlagen für einen effektiven Schutz der Menschenrechte noch nicht wesentlich verbessert hat. Nach wie vor kommt es zu gewaltsamen Evakuierungen von Ortschaften und Razzien mit zahlreichen Festnahmen sowie zu häufigen Misshandlungen und Folterungen in den Polizeiwachen, insbesondere während der ersten Tage des Polizeigewahrsams; im Übrigen besteht weiterhin die Gefahr einer schnellen und nachhaltigen Eskalation der Lage je nachdem, wie sich das weitere Schicksal des PKK-Führers Öcalan gestalten wird. Die Asylerheblichkeit der Aktionen der Sicherheitskräfte kann nicht mit der Begründung verneint werden, es handele sich um Exzesstaten. Denn die Annahme, Polizei und Jandarma würden ohne Duldung von Regierung, Staatsanwaltschaften oder sonstigen höheren Instanzen Folterungen durchführen, ist nicht realitätsgerecht. Zudem ist die Folter, vor allem in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, noch derart weit verbreitet, dass von einer systematischen Praxis gesprochen werden muss, auch wenn dies in den vergangenen Jahren zunehmend als korrekturbedürftig angesehen wurde. Doch trotz der allmählich voranschreitenden Bemühungen, die Ausbildung von Angehörigen der Sicherheitskräfte zu verbessern und die Rechtsgrundlagen für eine Durchsetzung des nach türkischem Verfassungsrecht und Internationalem Recht für die Türkei verbindlichen Folterverbotes zu verbessern, ist nach wie vor festzustellen, dass der türkische Staat nicht konsequent und umfassend gegen Folterer vorgeht. Die Verantwortlichkeit des türkischen Staates für die Folter wird zusätzlich durch den Umstand belegt, dass er die Instrumente mit welchen die Folterungen begangen werden, aus seinem Haushalt finanziert; bis heute unterhält er Einrichtungen, die mit speziellen, der Misshandlung von Menschen dienenden Geräten ausgestattet sind. Der Menschenrechtsausschuss der türkischen Nationalversammlung hat bei einer Inspektionsreise in Vernehmungsräumen von Gefängnissen und Polizeistationen zahlreiche Folterinstrumente entdeckt (Rumpf, Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S. 23; zu Art und Ausmaß der Folterpraxis: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. März 2002, S. 37; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Länderbericht Türkei 2001, Abschnitt 7; Rat der Europäischen Union, Bericht der Delegation des Vereinigten Königreiches vom 30. August 2001, S. 49ff.; Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar 1997 an das VG Hamburg, S. 73 ff.; zum mangelhaften Vorgehen gegen Folterer daneben u. a. FR vom 25. Februar 2002; amnesty international, Gutachten vom 15. April 1998 an VG Hamburg, S. 3, 12; NZZ vom 04. Mai 2002 (Verurteilung eines Folteropfers bei gleichzeitiger Einstellung des Verfahrens gegen die Folterer wegen Verjährung).

Die Menschenrechtsverletzungen durch türkische Sicherheitskräfte lassen sich auch nicht mit der Begründung rechtfertigen, das staatliche Vorgehen diene der Abwehr des Terrorismus. Selbst wenn die Bekämpfung militanter Angehöriger der PKK dem Bestandsinteresse des türkischen Staates dienen sollte, so bietet das - auch durch die türkische Rechtsordnung nicht gedeckte - Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte doch das Bild staatlichen Gegenterrors mit dem Ziel, auch die am Konflikt nicht unmittelbar beteiligte Zivilbevölkerung unter den Druck brutaler Gewalt zu setzen. Zudem müssen separatismusverdächtige Personen in der Konfrontation mit den Sicherheitskräften mit Misshandlungen rechnen, die über das Maß dessen hinausgehen, was Personen zu erwarten haben, die wegen krimineller Delikte verfolgt werden. Den vorliegenden Erkenntnisquellen ist zu entnehmen, dass Übergriffe im Polizeigewahrsam sich vor allem gegen das linke und kurdenfreundliche Spektrum richten und das der physische und psychische Druck diejenigen am härtesten trifft, die der Zusammenarbeit mit der militanten kurdischen Bewegung verdächtigt werden (Zum rechtlichen Ansatz BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u. a. -, BVerfGE 80, 315 (337 ff.); Beschluss vom 22. Januar 1999 - 2 BvR 86/97 -, NVwZ-Beil. I/99, S. 81 ff. m. w. N. ).

Allerdings haben sich die Schwerpunkte im Vorgehen der staatlichen Kräfte in den vergangenen zwei Jahren erkennbar verschoben: Auch wenn das türkische Militär nach wie vor gegen die PKK vorgeht, so ist diese doch militärisch weitgehend besiegt und steht möglicherweise, jedenfalls was ihren "militärischen Arm" betrifft, vor der Selbstauflösung bzw. Überführung in nichtmilitärische Organisationsstrukturen. Dem von der PKK am 01. September 1998 einseitig verkündeten Waffenstillstand folgte der 7. Außerordentliche Parteikongress im Januar 2000, auf dem eine

"Strategie des demokratischen Wandels" beschlossen wurde. Auf dem 8. Parteikongress vom 04. bis 10. April 2002 wurde schließlich beschlossen, alle Aktivitäten im Namen der PKK einzustellen; als "legitimer und einziger Nachfolger der PKK" wurde eine Organisation mit der Bezeichnung KADEK ("Kongrya Azadi u Demokrasiya Kurdistan = Freiheit und Demokratie Kongress Kurdistan) gegründet, die nach der Wahl Abdullah Öcalans als Vorsitzenden und unter der (vorläufigen) Leitung des Bruders von Abdullah Öcalan die "Einheit des kurdischen Volkes mit den Nachbarvölkern auf freiwilliger Basis" erreichen soll (Zitate entstammen der Abschlusserklärung vom 15. April 2002). Nach Schätzungen der türkischen Sicherheitskräfte ist die Zahl der aktiven Kämpfer auf weniger als 4.500 zurückgegangen, von denen sich nur noch etwa 10% auf türkischem Boden aufhalten sollen, so dass das militärische Vorgehen gegen die PKK verstärkt auch das nordirakische Grenzgebiet zur Türkei in die weiterhin bestehenden Offensiven einbezieht. Demgegenüber ist die kurdische Zivilbevölkerung im Übrigen in unvermindertem Ausmaß das Ziel von Aktionen der Sicherheitskräfte; allerdings haben sich die Anlässe für ein Eingreifen von Polizei und Jandarma gegenüber früheren Jahren verändert. Im Jahre 2001 hat es nur wenige an einen pauschalen Separatismus-Verdacht anknüpfende Dorfräumungen gegeben; in ähnlicher Weise ist die Neigung der Sicherheitskräfte zurückgegangen, die Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes als Test für die Loyalität der Betroffenen gezielt einzusetzen (Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, Erscheinungsformen des Ausländerextremismus, März 2001, S. 8ff. (S. 14 zum 7. Außerordentlichen Parteikongress); Kurdistan-Informationszentrum Berlin, Abschlusserklärung des 8. Parteikongressesvom 15. April 2002 (Internet: www.nadir.org/nadir/initiativ/kiz/presserkl/2002/04/03.htm; das Kurdistan-Informations-Zentrum publiziert im Rahmen eines Portals linksorientierter Initiativen und ist nach Auffassung des Innenministeriums NRW ein von PKK gesteuertes Informationsangebot, vgl. Innenministerium NRW, Verfassungsbericht 20012 S. 164); Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4. Juni 1999 an VG Bremen; Lagebericht vom 20. März 2002, S. 10f., 15ff.; NZZ vom 07. Februar 2002, "PKK verabschiedet sich").

Demgegenüber ist in den Vordergrund das Bemühen der Sicherheitskräfte getreten, jegliche Versuche, der kurdischen Sprache und Kultur sowie einem wie auch immer gearteten kurdischen Selbstverständnis Ausdruck zu verleihen, schon weit im Vorfeld derartiger Bemühungen und so effektiv wie möglich zu unterbinden. Lehrer, Schüler und Studenten, die derartige Forderungen artikulieren, Mitglieder, Funktionäre, und Symphatisanten kurdisch orientierter Parteien sowie alle im Bereich der Medien Tätigen sind deshalb in besonderer Weise gefährdet, in das Blickfeld der Sicherheitskräfte zu geraten und in deren Gewahrsam misshandelt und gefoltert zu werden (FR vom 26. und 28. Januar, und 25. Februar 2002; SZ vom 30. Januar und 1. Februar 2002; NZZ vom 13. März 2002; Komitee zum Schutz von Journalisten, Bericht vom 01. April 2002;

IMK-Wocheninformationsdienste vom 04. März und 13. Mai 2002; umfassend zur neueren Entwicklungen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Länderbericht Türkei, Mai 2001, v. a. Abschnitte 2, 3, 7.9 bis 7.15; Rat der Europäischen Union, Reise der Delegation des Vereinigten Königreichs, Bericht vom 30. August 2001, S. 41ff.; Rumpf, Gutachten vom 23. Januar 2001 an VG Augsburg; vgl. auch Kaya, Gutachten vom 13. September 1999 an VG Darmstadt, S. 1; hierzu auch VG Berlin, Informationsaustausch mit Vertretern von Rechtsanwaltskammern und Menschenrechtsorganisationen aus den Südprovinzen der Türkei am 28. Oktober 1999, S. 8 f.).

Dorfrazzien und Zwangsevakuierungen

In den ländlichen Regionen gingen die türkischen Sicherheitskräfte bislang einem Verdacht separatistischer Bestrebungen durch zahlreiche - zum Teil groß angelegte - Durchsuchungsaktionen ("Razzien") in den Dörfern nach. Diese von Misshandlungen und Folter begleiteten Maßnahmen sind asylerheblich, doch sind sie kein Indiz für das Vorliegen einer regionalen Gruppenverfolgung, da sie nicht an die Volkszugehörigkeit der Betroffenen anknüpfen. Bei derartigen Maßnahmen wurde zuerst das Dorf umstellt, so dass es nicht mehr ohne weiteres verlassen oder betreten werde konnte. Sodann drangen die Sicherheitskräfte in Gruppen in die einzelnen Häuser ein und holten die Bewohner heraus. Diese wurden zumeist auf dem Dorfplatz, manchmal auch in der Dorfschule oder in der Moschee, zusammengetrieben. Dort mussten sie stehend oder mit dem Gesicht nach unten oder auf dem Rücken liegend warten. Währenddessen wurden ihre Häuser nach Angehörigen der PKK-Guerilla und anderen Verdächtigen durchsucht, oft auch beschädigt. Der Hausrat, Vorräte und Empfangseinrichtungen für kurdischsprachige Sender wurden zerstört. Das selbe geschah mit Traktoren, Vieh und anderen Transportmitteln, die der Beförderung von Unterstützungsgütern der Guerilla dienen können. Nach dem Teilrückzug der PKK hat die Häufigkeit derartiger Vorfälle deutlich abgenommen, doch werden Razzien nach wie vor zur Einschüchterung der Bevölkerung und zur Aufrechterhaltung der gegen separatistische Bestrebungen bestehenden Drohung mit staatlicher Gewalt eingesetzt. Einem Bericht des Norwegischen Flüchtlingsrates zufolge wurden beispielsweise Ende August 2001 die Dörfer Salidere, Samandöken, German und Baris in der Provinz Van (Bezirk Baskale) in dieser Weise durchsucht, begleitet von zahlreichen Festnahmen. Im Juni 2001 wurden nach einer Minenexplosion, bei der ein Soldat getötet und zwei weitere verletzt wurden, in der Provinz Sirnak (Bezirk Beytüssebap) die Dörfer Germav, Bezal (Ortali), Tivor (Dagalti) und Cemepire (Asat) durchsucht sowie zahlreiche Personen festgenommen und gefoltert (Norwegischer Flüchtlingsrat, Länderbericht vom 18. März 2002; ebenso Human Rights Watch, Länderbericht für 2001; zu den Razzien und Dorfräumungen allgemein: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. März 2002, S. 17; Bericht der (türkischen) parlamentarischen Untersuchungskommission 10/25 zu Dorfräumungen vom 14. Januar 1998).

Im Zuge einer derartigen Razzia wurden häufig nicht nur einzelne Personen gezielt auf Grund eines konkreten Unterstützungsverdachts festgenommen, sondern es genügte oftmals die zufällige Nähe eines Dorfes beispielsweise zu einer bewaffneten Auseinandersetzung der Guerilla mit den Sicherheitskräften, um letztere zur Festnahme auch größerer Personengruppen eines Dorfes, vorzugsweise der jungen Männer im wehrfähigen Alter, zu veranlassen.

Bis zu 50 Personen waren manchmal von derartigen Festnahmeaktionen betroffen. Mitunter wurden auch Kinder verdächtigt, der Guerilla Nahrungsmittel bringen zu wollen oder für diese Kurierdienste zu leisten, wenn sie in Gebieten, in denen die Guerilla operierte, außerhalb des Dorfes mit einem Proviantpaket angetroffen wurden oder wenn sie allein unterwegs waren oder an der Straße auf ein Fahrzeug warteten.

In vielen Fällen wurden Dörfer, deren Bewohner sich in den Augen der Sicherheitskräfte verdächtig gemacht hatten und diesen Verdacht nicht ausräumen konnten, nicht nur durchsucht, sondern mit Gewalt vollständig geräumt. Dabei wurden häufig die Häuser der Bewohner in Brand gesetzt oder durch Artilleriebeschuss zerstört. Den Räumungen ging gelegentlich eine Belagerung der betroffenen Ortschaft, verbunden mit einem Lebensmittelembargo, voraus. Ziel dieser Zwangsräumungen war es, der PKK die Operations- und Versorgungsstützpunkte in der Region zu entziehen bzw. Schwerpunkte separatistischer Bestrebungen zu zerschlagen. Die Zwangsevakuierungen betrafen entsprechend dieser Zielsetzung im Regelfall Dörfer, die von der PKK als Operations- oder Versorgungsbasen genutzt wurden, meist am Rande der Rückzugsgebiete der Guerilla, namentlich am Fuße hoher Berge oder im Grenzgebiet zum Irak. Von den etwa 12.000 Dörfern im Notstandsgebiet bzw. 35.000 Dörfern und weiteren 44.000 kleineren Siedlungen in den ländlichen Gebieten des Südostens waren nach Schätzungen etwa 3.500 Dörfer mit zwischen 300.000 und 2 Millionen Menschen betroffen.

Nach Angaben eines ehemaligen Parlamentsabgeordneten sollen 560.000 Personen von den Evakuierungen betroffen gewesen sein, während die türkische Regierung die Zahl von 362.915 Personen nennt. Allerdings lassen sich Evakuierung und wirtschaftlich bedingte Landflucht nicht immer exakt voneinander trennen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. Juli 2001, S. 14; Lagebericht vom 20. März 2002, S. 17; zu Razzien und Evakuierungen neben den bereits genannten noch Aydin, Gutachten vom 7. Mai 1998 an VG Hamburg; Kaya, Gutachten vom 29. August 1996 an VG Stuttgart, S. 3ff.; Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 21 f., 27; Gutachten vom 11. Juli 1997 an VG Hamburg; Gutachten vom 13. September 1999 an VG Darmstadt; Gutachten vom 13. Oktober 1999 an VG Gelsenkirchen; Dinc, Gutachten vom 11. Februar 1998 an VG Berlin, S. 2; Gesellschaft für bedrohte Völker, Auskunft vom 14. März 1997 an VG Hamburg; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S.75.; Taylan, Gutachten vom 1. Februar 1997 an OVG Schleswig-Holstein, S. 4 f.; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 1).

Auch seit dem Teilrückzug der PKK sind weitere Zwangsevakuierungen bekannt geworden, wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß. So wurden im August 2001 in der Provinz Hakkari (Bezirk Yüksekova) die Ortschaften Sirangel (Tokagac), Memiste (Ikizli), Segizan (Cevizli) und Glort (Bostanici) durchsucht und anschließend geräumt. Die von der bereits erwähnten Minenexplosion betroffenen Dörfer Ortali und Asat wurden Ende Juli 2001 ebenfalls geräumt, während Tivor, Ilicak und Hisarkapi von der Außenwelt abgeschnitten und einem Lebensmittelembargo ausgesetzt wurden. Mitarbeitern von Menschenrechtsorganisationen gelang es, die Situation vor Ort in Augenschein zu nehmen; allerdings berichteten die türkischen Medien kaum über diese Vorfälle, und der Gouverneur von Sirnak versuchte, jedenfalls die Berichte über die Verhängung eines Lebensmittelembargos zu verhindern (Norwegischer Flüchtlingsrat, Länderbericht vom 18. März 2002; Human Rights Watch, Human Rights Developments (Jahresbericht Türkei für 2001).

Nach Einschätzung des Senats rechtfertigt der Umstand, dass Razzien und Evakuierungen an Häufigkeit abgenommen haben, nicht die Annahme, dass die türkischen Sicherheitskräfte aus grundsätzlichen Erwägungen von diesen Mitteln der Disziplinierung vermeintlich oder tatsächlich separatistischer Bestrebungen Abstand genommen hätten. Diese Einschätzung wird auch durch Rückkehrerprogramme der türkischen Regierung für die von den Dorfräumungen Betroffenen Personen nicht in Frage gestellt. Denn abgesehen von der geringen Zahl von Personen, die in den Genuss dieser Rehabilitierungsmaßnahmen gekommen sind - bis 1999 waren es nach Angaben der türkischen Regierung 26. 481 Personen -, ist den Berichten teilweise zu entnehmen, dass die Rückkehrererlaubnis von der Bedingung nachträglicher Stellung von Dorfschützern abhängig gemacht wurde; auch haben offenbar nur wenige ehemalige Dorfbewohner überhaupt Entschädigungszahlungen erhalten. Hinzu kommt, dass die Rückkehrer häufig auf die Schwierigkeit stoßen, dass ihre Ländereien und Häuser, soweit diese nicht zerstört worden waren, von Dorfschützern übernommen worden sind und nicht wieder freigegeben werden; staatliche Hilfe steht den Rückkehrern offenbar kaum zur Verfügung. Überdies zielt eines der beiden Rückkehrerprogramme nicht einmal darauf, die von Evakuierung Betroffenen in ihre Heimatdörfer zurückzuführen, sondern soll sie in neu errichteten "Zentraldörfern" oder "Zentralstädten" ("merkez köy") unter der engen Aufsicht der Sicherheitskräfte ansiedeln.