Homosexuelle sind in Nigeria sowohl nichtstaatlicher als auch staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Schon das gemeinsame Auftreten als gleichgeschlechtliches Paar in der Öffentlichkeit steht unter Strafe.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen führt das Begehren der Klägerin zum Erfolg. Zwar ist die Klägerin nicht vorverfolgt ausgereist.
Das Gericht ist aber davon überzeugt, dass der Klägerin bei einem Verbleib in Nigeria dem Schutzbereich des § 3 AsylG unterfallende Rechtsverletzungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gedroht hätten bzw. ihr im Fall einer freiwilligen oder zwangsweisen Rückkehr drohen. Denn das Gericht ist unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung sowie der durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die Klägerin homosexuell ist und deshalb zu einer sozialen Gruppe gehört, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). [...]
Homosexuelle bilden in Nigeria eine soziale Gruppe i.S. des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemeinsam haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Diese gesetzlichen Vorgaben entsprechen auch dem europäischen Recht, wie es Niederschlag in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Qualifikationsrichtlinie RL 2011/95/EU (zuvor auch in Qualifikationsrichtlinie a.F. - 2004 -) gefunden hat.
Nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 7. November 2013 in den verbundenen Rechtssachen C-199/12 bis C-201/12: dazu auch Nora Markard, EuGH zur sexuellen Orientierung als Fluchtgrund. Asylmagazin 2013, S. 402 ff.; ferner Hruschka/Löhr, Das Konventionsmerkmal "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" und seine Anwendung in Deutschland, NVwZ 2009, 206) ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Qualifikationsrichtlinie a.F. (RL 2004/83/EG) dahin auszulegen, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind. Zwar stelle allein der Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung i.S.d. Art. 9 Abs. 1 !.V.m. Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie a.F. (vgl. auch § 3 a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 3 AsylG) dar. Seien hingegen homosexuelle Handlungen mit Freiheitsstrafen bedroht und werden sie im Herkunftsland, das eine entsprechende strafrechtliche Regelung erlassen hat, auch tatsächlich verhängt, so ist dies als unverhältnismäßige diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar. Nicht beanstandet hat der EuGH die Regelung, dass vom Geltungsbereich der Richtlinie die homosexuellen Handlungen ausgeschlossen sind, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten strafbar sind. Andererseits können bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden nicht erwarten, dass der Schutzsuchende seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.
Ausgehend davon, dass die Homosexualität als eine für die Identität einer Person so bedeutsames Merkmal darstellt, dass sie nicht zu einem Verzicht darauf gezwungen werden sollte, erlaubt ferner das Bestehen strafrechtlicher Bestimmung in Nigeria, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung, dass diese Personen eine deutlich abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Nach den vorliegenden Erkenntnissen, sind homosexuelle Handlungen jeglicher Art in Nigeria sowohl nach säkularem Recht (mit zeitiger Freiheitsstrafe - bei vollzogenem Verkehr mit einer Freiheitsstrafe bis zu 14 Jahren) als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar. Im Januar 2014 hat der vorherige Präsident Nigerias - Goodluck Jonathan - ein weiteres Gesetz mit dem Namen "Same Sex Marriage (Prohibition) Bill" unterzeichnet. Bis zu vierzehn Jahren Haft droht Homosexuellen, wenn sie einen (verbotenen) Ehevertrag oder eine (verbotene) zivilrechtlich eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingehen. Personen, die an einer solchen Zeremonie teilnehmen oder sie unterstützen, drohen zehn Jahre Haft. Wer öffentlich die Liebesbeziehung zu einem Menschen gleichen Geschlechts "direkt oder indirekt zeigt", muss für bis zu zehn Jahre ins Gefängnis (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) vom 3. Dezember 2015, S. 14; Bundesamt (BAMF), Briefing Notes vom 20. Januar 2014; Deutsche Welle vom 14. Januar 2014: "Nigeria führt hohe Haftstrafen für Homosexuelle ein"; BBC News vom 15. Januar 2015: "Nigeria: Islamic court tries gay suspects in Bauchi"; Human Rights Watch vom 16. Januar 2014: Nigeria: "Anti-LGBT Law Threatens Basic Rights“).
Die jetzige Verschärfung der Strafgesetze hat zwar bisher nicht zu einer spürbar verschärften Strafverfolgung geführt. Wohl auch deshalb, weil es derzeit nur im Federal Territory Abuja gültig ist; die anderen Bundesstaaten haben es noch nicht in ihre Strafgesetze übernommen. Bisher ist es nach Kenntnis der Deutschen Botschaft noch nicht zu Anklagen bzw. Verurteilungen nach dem neuen Gesetz gekommen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) vom 3. Dezember 2015. S. 14).
Es ist aber von einer Ächtung homosexuell veranlagter Menschen durch die Bevölkerung auszugehen. So ist in Kano beispielsweise die Hisbah, eine offiziell gesellschaftlich-moralische Aufgaben wahrnehmende Organisation, bei Homosexuellen wegen ihrer gewaltsamen Übergriffe gefürchtet (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) vom 3. Dezember 2015, S. 14).
Außerdem steht zu befürchten, dass die Polizei in derartigen Fällen sich nicht gegen die Bevölkerung stellt bzw. eine Sicherungsverwahrung des Homosexuellen zu einer Dauerinhaftierung oder gar zu einer extralegalen Tötung führt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) vom 3. Dezember 2015. S. 20, 22).
Das Verhalten der Bevölkerung als solche erfüllt nach Einschätzung des Gerichts bereits alle Merkmale einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure i.S. von § 3c Nr. 3 AsylG, ohne dass dem homosexuell veranlagten Menschen vom nigerianischen Staat ausreichend Schutz i.S. von § 3d AsylG geboten wird.
Hiervon ausgehend droht der Klägerin von staatlicher Seite mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Form einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung i.S. von § 3a Abs. 1 i.V. m. Abs. 2 Nr. 3 AsylG. Denn bereits das bloße Zusammenleben und das gemeinsame öffentliche Erscheinen als gleichgeschlechtliches Paar stehen danach unter Strafe. Insoweit ist ferner zu berücksichtigen, dass nach der oben genannten Entscheidung des EuGH nicht von dem Asylbewerber erwartet werden kann, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung ausübt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (so auch: VG Aachen. Urteil vom 12. Dezember 2014 - 2 K 1477/13.A -,juris; Urteil vom 18. März 2014 - 2 K 1589/10.A -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 19. November 2013 - RN 5 K 13.30226 -, juris). [...]