VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 21.12.2015 - A 6 K 2392/15 (= ASYLMAGAZIN 3/2016, S. 74) - asyl.net: M23480
https://www.asyl.net/rsdb/M23480
Leitsatz:

Eine extreme Gefahrenlage kann sich für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie alte oder behandlungsbedürftige kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierungen unterliegen, ergeben.

Schlagwörter: Kleinkind, Afghanistan, extreme Gefahrenlage, Kabul, besonders schutzbedürftig, Rückkehrgefährdung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG liegen beim Kläger nach diesem Maßstab vor. Der VGH Baden-Württemberg hat sich, nachdem mehrere seiner Entscheidungen durch das Bundesverwaltungsgericht aufgehoben worden sind (Urteile vom 08.09.2011), der Rechtsprechung des Bayerischen VGH (Urteil vom 03.02.2011 - 13a 10.30394-, juris) sowie des OVG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 26.10.2010 -20 A 964/10.A - juris) angeschlossen und ist nach Auswertung der aktuellen Erkenntnisquellen ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen, dass für die Personengruppe der beruflich nicht besonders qualifizierten afghanischen männlichen Staatsangehörigen, die in Kabul ohne Rückhalt und Unterstützung durch Familie oder Bekannte sind und dort weder über Grundbesitz noch über nennenswerte Ersparnisse verfügen, trotz der schlechten Versorgungslage bei einer Abschiebung nach Kabul regelmäßig keine extreme Gefahrensituation mehr im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG besteht, auch wenn eine Rückkehr unter humanitären Gesichtspunkten kaum zumutbar sein dürfte (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.03.2012 - A 11 S 3177/11-, juris). Dem hat sich auch das erkennende Gericht angeschlossen und daher seine anderslautende Rechtsprechung zur extremen Gefahrenlage in Kabul aufgegeben Zur Vermeidung von Wiederholungen macht es sich die Entscheidungsgründe des Urteils des VGH Baden-Württemberg vom 06.03.2012 a.a.O. zu eigen. Seit diesem Urteil hat sich die Sachlage in Afghanistan nicht entscheidend geändert (vgl. Update der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 03.09.2012 sowie Auswärtiges Amt - Lageberichte vom 31.03.2014, 05.10.2014 und 02.03.2015). Im Übrigen hat das BVerwG in seinem Urteil vom 31.01.2013 (Az. 10 C 15.12, juris) seine restriktive Ansicht über die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nochmals bekräftigt (vgl. dazu auch BayVGH, Beschl. v. 05.02.2015 - 13a ZB 14.30172 - mit weitere Nennung der Rechtsprechung, abgedruckt in juris).

Beim Kläger liegen aber individuelle Verhältnisse vor, die eine extreme Gefahrenlage ausnahmsweise begründen. Denn bereits bei seinen Eltern wurde eine besondere Gefahrenlage angenommen, weil der Vater infolge einer Krankheit sein Augenlicht eingebüßt hatte. Das Bundessamt ging dabei davon aus, dass aufgrund der gegenwärtigen Erkenntnislage davon auszugehen sei, dass die Familie wegen der erheblichen Beeinträchtigungen des Vaters, der der Versorger der Familie sei, nicht in der Lage sein werde, das Existenzminimum der Familie zu erwirtschaften. Ein zumutbarer Rückgriff auf ein familiäres Netzwerk sei nach Aktenlage nicht erkennbar. Dies entspricht auch den Erkenntnissen des Gerichts. In der Gesamtschau der aktuellen Auskünfte ist davon auszugehen, dass die Rückkehrsituation, die ein Rückkehrer in Kabul vorfindet, wesentlich davon mitbestimmt wird, ob er sich auf familiäre oder sonstige verwandtschaftliche Strukturen verlassen kann, oder ob er auf sich allein gestellt ist. Je stärker noch die soziale Verwurzelung des Rückkehrers oder je besser seine Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen ist, desto leichter und besser kann er sich in die jetzige Situation in Afghanistan wieder eingliedern und jedenfalls ein Existenzminimum sichern. Trotz der teilweise äußerst schlechten Sicherheits- und Versorgungslage kann zwar nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer aus Europa den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Kabul erleiden müsste. Eine extreme Gefahrenlage kann sich nach Auffassung des Gerichts jedoch für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie alte oder behandlungsbedürftige kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben (zur Lage in Afghanistan Auswärtiges Amt - Lageberichte vom 05.10.2014 und 02.03.2015, siehe auch Schweizerische Flüchtlingshilfe - Afghanistan Update Stand 22.07.2014 bzw. 05.10.2014; Mostafa Danesch, Stellungnahme vom 03.09.2013 und 08.01.2014). [...]