Wird im Asylverfahren stichhaltig vorgebracht, dass eine in Albanien Gefährdung aufgrund eines Blutrachekonflikts besteht, ist eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nicht zulässig.
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Indes begegnet die Ablehnung der Anträge der Antragsteller auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus als offensichtlich unbegründet rechtlichen Bedenken; die Antragsteller könnten nämlich einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG haben. Nach dieser Regelung ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach Satz 2 der Regelung die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Vorliegend könnten die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfüllt sein. Die Antragsteller machen mit ihren Einlassungen zu einem bestehenden Blutrachekonflikt geltend, dass ihnen in Albanien ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Unmenschlich ist eine Behandlung, die absichtlich schwere psychische oder physische Leiden verursacht, die in der spezifischen Situation ungerechtfertigt sind. Erniedrigend ist eine Strafe oder Behandlung, wenn sie bei den Betroffenen Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit hervorrufen kann, die geeignet sind, das Opfer zu demütigen, verächtlich zu machen und gegebenenfalls den physischen oder psychischen Widerstand zu brechen (vgl. Göbel-Zimmermann/Masuch, in: Huber [Hrsg.], Aufenthaltsgesetz, Kommentar, München 2010, § 60 Rdnr. 91). Betroffenen eines Blutrachekonflikts droht ernsthafter Schaden in Form unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Denn im Rahmen solcher Konflikte werden bei den Betroffenen absichtlich nicht gerechtfertigte schwere körperliche und seelische Leiden verursacht. Bereits die Angst vor einer Tötung im Namen der Blutrache löst bei den Betroffenen zumindest Gefühle der Angst und Beklemmung aus.
Die von den Antragstellern in ihren persönlichen Anhörungen unter Vorlage diverser Unterlagen angegebenen Tatsachen und Beweismittel begründen in ihrem konkreten Fall die Annahme, dass ihnen abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung drohen könnte. Zwar hat das Bundesamt auf Seite 9 des angefochtenen Bescheides bestehende Widersprüche in den Angaben der Antragsteller zu 1. und 2. bei deren persönlichen Anhörungen am 9. März 2015 aufgezeigt. Diesbezüglich hat indes der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller zutreffend auf die Unvollständigkeit der Anhörungsprotokolle hingewiesen sowie substantiiert vorgetragen, dass die Antragsteller in der Lage seien, etwa verbliebene Unklarheiten ihres Sachvortrages im Rahmen einer mündlichen Verhandlung aufzuklären. In Anbetracht dieser Umstände erachtet das Gericht die weitere Aufklärung des substantiiert vorgetragenen Verfolgungsschicksals durch eine Einholung amtlicher Auskünfte sowie die persönliche Anhörung der Antragsteller im Hauptsacheverfahren für erforderlich.
In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass ein Bestehen der geltend gemachten Gefahr, Opfer der Blutrache zu werden, für die weiblichen Antragsteller sowie den noch minderjährigen männlichen Antragsteller zu 5. nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint. Denn seit den 90er Jahren ist eine Verwischung zwischen traditionellen Wertvorstellungen und kriminellen oder politischen Motivationen festzustellen; einzelne Grundsätze des Gewohnheitsrechts wurden vollständig pervertiert. Beispielsweise wurde in den letzten Jahren vermehrt berichtet, dass selbst Frauen und Kinder unter 16 Jahren, die nach der traditionellen Auslegung des Kanun an sich nicht satisfaktionsfähig sind, direkt von Gewalt und Isolation aufgrund von Blutrache betroffen sind (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration, Albanien, Blutrache, April 2014, S. 10 f.; Moser, in: Schweizerische Flüchtlingshilfe [Hrsg.], Albanien: Posttraumatische Belastungsstörung, Blutrache, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 13. Februar 2013, S. 9; Bauerdick, in: FOCUS online, Albanien versinkt in mörderischer Gewalt, Artikel vom 11. März 2013, im Internet abrufbar unter. www.focus.de/panorama/welt/best-of-Playboy/menschen-und-storys/tid299851 rueckkehr-der-blutrache-albanien-versinkt-in-moerderischer-gewalt_aid_936288.html).
Sollte im Ergebnis der durchzuführenden mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts das Bestehen des geltend gemachten Blutrachekonflikts feststehen, bestände aller Voraussicht nach - obgleich der Einleitung diverser Schritte des albanischen Staates zur Bekämpfung der Blutrache - kein wirksamer Schutz vor dem infolge eines Blutrachekonflikts den Antragstellern drohenden ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG. Ein solcher Schutz ist nach § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG lediglich dann generell gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Gefahr eines ernsthaften Schadens zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Gefahr eines ernsthaften Schadens darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.
Nach der aktuellen Erkenntnislage (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Albanien vom 10. Juni 2015, Stand: Mai 2015, S. 10 f.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration, Albanien, Blutrache, April 2014, S. 18 f.) lehnt der albanische Staat zwar die Blutrache ab und bekämpft er sie. Auch haben sich im Kontext der Kandidatur für die EU-Mitgliedschaft die Bestrebungen des albanischen Staats verstärkt, die Anwendung des traditionellen Gewohnheitsrechts zu verringern und insbesondere Fälle von Blutrache zu bekämpfen. So wurde 2008 das albanische Strafgesetz angepasst. Seither wird die vorsätzliche Tötung im Kontext von Rache oder Blutfehde mit fünfzehn bis zwanzig Jahren oder sogar lebenslänglicher Inhaftierung verurteilt. Die Androhung von Blutrache, die zur Isolation der betroffenen Familien führt, wird mit einer Geldstrafe oder Inhaftierung bis zu drei Jahren bestraft. Zusätzlich beschloss die albanische Regierung weitere Maßnahmen, um Blutrache und Ehrenmorde zu bekämpfen und Opfer zu unterstützen. So unterstützt sie Versöhnungsbestrebungen mit finanziellen Mitteln und versucht, aufgrund von Familienfehden isolierte Kinder mit Schulbüchern und Hauslehrern zu versorgen. Auch nichtstaatliche und internationale Akteure unterstützen Bemühungen, diesem Missstand entgegen zu wirken (vgl. Moser, in: Schweizerische Flüchtlingshilfe [Hrsg.], Albanien: Posttraumatische Belastungsstörung; Blutrache, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 13. Februar 2013, S. 10 f.). Zutreffend weist auch das Bundesamt auf Seite 8 des angefochtenen Bescheides auf die Bemühungen des albanischen Staates zur Bekämpfung der Blutrache hin.
Gleichwohl dürfte sich nicht annehmen lassen, dass der albanische Staat und internationale Organisationen in hinreichendem Maße geeignete Schritte zur Bekämpfung der Blutrache eingeleitet haben. Eine bloß grundsätzliche, aber eben im Einzelfall etwa versagende Schutzbereitschaft der Schutzakteure reicht nämlich nicht aus. Es genügt nicht, dass der Staat Verfolgungshandlungen nur offiziell missbilligt oder Gesetze erlässt, sofern er - wie hier - aufgrund tiefverwurzelter Traditionen und Überzeugungen seiner Amtswalter (Richter, Polizisten, Staatsanwälte) und mangels eines generellen gesellschaftlichen Prozesses des Umdenkens jedenfalls in der Realität schlichtweg nicht in der Lage ist, mit diesen Amtswaltern diese Vorschriften auch tatsächlich umzusetzen (vgl. Treiber, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Band 3, 78. EGL, Stand: Dezember 2014, § 60 Rdnr. 138.1; Bank/Foltz, Flüchtlingsrecht auf dem Prüfstand, Beilage zum ASYLMAGAZIN 10/2008, S. 16). Nach den Erkenntnismitteln betreffend die Republik Albanien kann der albanische Staat aufgrund seiner begrenzten Kapazitäten und der langsamen und korruptionsanfälligen Justiz nur mit eingeschränktem Erfolg Schutz vor der Blutrache gewähren (vgl. Moser, in: Schweizerische Flüchtlingshilfe [Hrsg.], a.a.O., S. 10; Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 10; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration, a.a.O., S. 16).
Erscheint der Erfolg des Hauptsacheverfahrens bezüglich der beantragten Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus mithin vorliegend zumindest offen, kommt es für den Erfolg des vorliegenden Verfahrens zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes entscheidend auf eine Abwägung der widerstreitenden Interessen an. Dabei ist dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Vorrang vor dem Vollzugsinteresse der Behörde einzuräumen. Dies gilt insbesondere in Anbetracht des Umstandes, dass interner Schutz gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG im Fall des Bestehens des geltend gemachten Blutrachekonflikts nicht gegeben sein dürfte. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens oder Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort auf genommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort nieder lässt (Nr. 2). Nach der Erkenntnislage sind die inländischen Fluchtalternativen für potentielle Blutracheopfer jedoch begrenzt. Die Anonymität ist selbst in der Hauptstadt Tirana und anderen urbanen Zentren des Landes wegen der geringen Größe des Landes und seiner Bevölkerung jederzeit auflösbar (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 11). Sollte der von ihnen vorgetragene Blutrachekonflikt tatsächlich bestehen, kann deshalb von den Antragstellern voraussichtlich nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich in einem anderen Landesteil Albaniens niederlassen, um so der Gefahr, Opfer der Blutrache zu werden, zu entgehen. [...]