VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 21.09.2015 - 5 A 303/14 MD - asyl.net: M23576
https://www.asyl.net/rsdb/M23576
Leitsatz:

Die schlechte sozioökonomische und humanitäre Situation in Somalia kann dazu führen, dass Rückkehrer einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt sind.

Schlagwörter: Somalia, Abschiebungsverbot, Zentralsomalia, Hiraan, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Rückkehrgefährdung, Versorgungslage, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger ist auch nicht gemäß § 4 Abs. 1 AsylVfG subsidiärer Schutz zuzuerkennen. […]

Es finden sich zunächst keine Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 3 AsylVfG. […]

Selbst wenn man davon ausgeht, dass mit Blick auf eine hohe Dunkelziffer eine quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos nicht möglich ist und deshalb eine bewertende Betrachtung unter Berücksichtigung der regionalen Besonderheiten erforderlich ist, kann nicht festgestellt werden, dass der Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass in der Heimatregion des Klägers praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Was die militärische und politische Entwicklung in Somalia insgesamt und auch in der Heimatregion des Klägers anbelangt, so hat diese in den letzten Jahren zu einer Verbesserung der Sicherheitslage geführt (so im Ergebnis ebenfalls VG Aachen, Urteil vom 13.04.2015 - 7 K 711/14 - juris; VG Regensburg, Urteil vom 08.01.2015 - RO 7 K 13.30801 - juns). [...]

Was insbesondere die Heimatregion des Klägers (Hiraan) anbelangt, hieß es im August 2014, dass AMISOM und die somalische Armee ihre Kontrolle im Verlauf der "Operation Adler" auch in dieser Region ausdehnen konnten (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Süd- und Zentralsomalia, Länderüberblick, Stand: August 2014, Seite 84). Weiter heißt es, dass die dort neu eroberten Städte "Inseln im Al-Shabab Territorium" seien. [...]

Insgesamt deutet die Auskunftslage nach Auffassung des Gerichts darauf hin, dass jedenfalls in den durch die somalische Armee und AMISOM befreiten Gebieten die Regierungstruppen zwar auch weiterhin Angriffsziele der Al-Shabab sind. Dabei nehmen die Attentäter auch Opfer unter der Zivilbevölkerung billigend in Kauf. Auf der anderen Seite ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Präsenz der AMISOM und die gemeinsamen Bestrebungen der internationalen Gemeinschaft dafür sorgen, dass sich die Sicherheitslage in diesen Gebieten nicht weiter verschlechtert. Hierfür spricht auch der angekündigte Versuch der somalischen Armee und AMISOM, nach den als erfolgreich bezeichneten Offensiven "Operation Eagle" und Operation Indian Ocean" ab Juli 2015 eine weitere Offensive anzustrengen (Operation Jubba Corridor"), welche die Verdrängung der Al-Shabab aus zwei von drei Hochburgen (Bardere und Dinsoor) sicherstellen soll ([...]). Daher ist nach Auffassung des Gerichts in den durch die somalische Armee und AMISOM befreiten Gebieten - und insbesondere in Mogadischu - gegenwärtig von einer einigermaßen vorhandenen öffentlichen Sicherheit auszugehen. Die Gefahr einzelner Übergriffe gegen Rückkehrer, etwa wegen einer vermuteten Spionagetätigkeit für die Regierungstruppen zumindest, ist nicht auszuschließen. Eine konkrete, jeden Rückkehrer gleichsam von selbst treffende Lebens- oder Leibesgefahr liegt darin jedoch nicht. [...]

Subsidiären Schutz vermag der Kläger auch nicht über § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG zu erlangen. Dies gilt insbesondere unter dem Gesichtspunkt der schlechten allgemeinen sozioökonomischen und humanitären Lebensverhältnisse in Somalia. Soweit das Verwaltungsgericht Regensburg in einer Entscheidung vom 08.01.2015 (RO 7 K 13.30801 - juris) davon ausgeht, dass die extrem schlechte Versorgungslage in Somalia einen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG zu begründen vermag, weil unter besonderen Voraussetzungen schlechte humanitäre Bedingungen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäß Art. 3 EMRK zu werten seien und die humanitäre Krise in Somalia überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückzuführen sei, so vermag der Einzelrichter dem nicht zu folgen. [...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG sind vorliegend gegeben. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre beim Kläger der Fall, wenn er nach Somalia zurückkehren müsste. Angesichts der vorliegenden besonderen Umstände muss der Kläger befürchten, aufgrund der dortigen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Selbst wenn dem Kläger in Somalia keine näher spezifizierten, konkreten Maßnahmen drohen, weisen die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen vorliegend eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. [...]

Eine solche Ausnahmesituation sieht der Einzelrichter nach den individuellen Verhältnissen des Klägers als gegeben an.

Die Versorgungslage in Somalia ist schlecht, auch wenn in den letzten Monaten Verbesserungen festzustellen sind. In seinem Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 02.02.2015 (Stand: November 2014) stellt das Auswärtige Amt fest, dass die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nicht gewährleistet sei. [...]

Überdies sind bei der Bewertung der Versorgungslage die entsprechenden Möglichkeiten von Rückkehrern nach Somalia zu berücksichtigen. Das Verwaltungsgericht Regensburg (Urteil vom 08.01.2015 - RO 7 K 13.30801 - juris) hat hierzu ausgeführt:

"Bei der Bewertung der entsprechenden Möglichkeiten von Rückkehrern nach Somalia ist zu berücksichtigen, dass sie nicht frei agieren können, sondern darauf achten müssen, durch angepasstes Verhalten weder der Al Shabab noch den Regierungskräften aufzufallen. Zudem sind ihre Erwerbsmöglichkeiten besonders eingeschränkt durch die Konkurrenz mit der erheblichen Zahl von rückkehrenden Binnenvertriebenen (vgl. oben). Wie Berichte über die Situation von Binnenvertriebenen zeigen (vgl. Amnesty Länderinformationen 12/2013, Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 25.10.2013) kehren diese wegen Zwangsräumungen sowie wegen Diskriminierung und Gewalt in den Lagern oft ohne Perspektive hinsichtlich der künftigen Lebenssituation zurück. Bei der Konkurrenz um die kaum vorhandenen Arbeitsplätze haben sie aber Vorteile gegenüber Rückkehrern aus dem Ausland, weil ihnen die Situation und Machtverhältnisse vor Ort noch vertrauter sind, sie regelmäßig detailliertere Kenntnisse über aktuelle Entwicklungen haben dürften, leichter an frühere Kontakte anknüpfen können und nach der Beschreibung der Verhältnisse in den Lagern häufig auch mehr Taktiken bezüglich des erforderlichen angepassten Verhaltens entwickelt bzw. nicht verlernt haben dürften. Berichtet wird weiter, dass die Einkommensmöglichkeiten in Zusammenhang mit der Clanzugehörigkeit stehen und Angehörige eines Minderheitenclans wegen des fehlenden Netzwerks eines herrschenden Clans besonders benachteiligt seien (Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 25.10.2013). Ebenso muss auf die Sicherheitssituation Rücksicht genommen werden, so dass z.B. ein Tätigwerden in der Nacht nicht in allen Gebieten oder nur eingeschränkt möglich sein dürfte (vgl. z.B. EASO-Bericht Ziff. 3.4.9.). Häufig dürfte deshalb bei Rückkehrern nach Somalia eine Gefahrenlage gegeben sein, die hinsichtlich des Grades der fehlenden Existenzmöglichkeiten trotz des Wegfalls der Sprachbarriere mindestens vergleichbar ist mit der von Asylbewerbern in einem Land, in denen ihnen keinerlei soziale Unterstützung gewährt wird."

Der Einzelrichter schließt sich dieser Einschätzung an. Was insbesondere die Frage anbelangt, ob es Rückkehrern möglich ist, sich in Mogadischu niederzulassen, lässt sich den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln entnehmen, dass man eine Kernfamilie braucht, die einen beim Lebensunterhalt unterstützt. Die Großfamilie leistet Unterstützung nur für einige Tage und kann nicht als langfristige Lösung für Lebensunterhalt oder Unterkunft angesehen werden. Erleichtert wird die Rückkehr zudem durch ausreichende finanzielle Mittel, Bildung und berufliche Fähigkeiten (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Süd- und Zentralsomalia, Stand: August 2014, Seite 126).

Der Einzelrichter geht davon aus, dass eine derartige Ausnahmesituation auch nach den individuellen Verhältnissen des Klägers gegeben ist und er keine realistische Möglichkeit hat, bei einer Abschiebung sein Existenzminimum zu sichern.

Der familiäre Wohn- und Aufenthaltsort des Klägers ist Beledweyne gewesen. Mit den Verhältnissen im übrigen Land, insbesondere in Mogadischu, ist er deshalb nicht vertraut. Er hat zwar nach eigenen Angaben vier Jahre die Schule besucht und seinen Lebensunterhalt anschließend als LKW-Fahrer verdienen können. Einen richtigen Beruf hat der 38-jährige Kläger allerdings nicht gelernt. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass der Kläger über substantielle finanzielle Mittel verfügt. Den LKW, den er von seinem Vater übernommen hat, hat er für die Finanzierung seiner Ausreise verkaufen müssen. Dass die Familie über weiteres Vermögen verfügt, der Kläger also aus einer wohlhabenden Familie stammt, kann nicht festgestellt werden. Soweit finanzielle Mittel für seine Ausreise zur Verfügung standen, muss davon ausgegangen werden, dass diese aufgebraucht sind. Es kann auch nicht angenommen werden, dass das Existenzminimum des Klägers durch familiäre Unterstützung gesichert ist. Der Kläger hat zwar angegeben, dass seine Ehefrau und seine Kinder noch in Somalia leben. Allerdings ist die Familie des Klägers mittlerweile nach Nordsomalia in die Nähe der äthiopischen Grenze (ca. 1.000 km von der Heimatstadt entfernt) gezogen. Verwandte hat der Kläger damit weder in Beledweyne noch in Mogadischu. Zudem müsste der Kläger bei einer Abschiebung erst von Mogadischu nach Nordsomalia gelangen. Gerade dieser Weg wird - wie dargelegt - als unsicher beschrieben und führt über zahlreiche Clangrenzen. [...]