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VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 04.08.2015 - 1 K 14.30326 - asyl.net: M23608
https://www.asyl.net/rsdb/M23608
Leitsatz:

Kein Widerruf der Feststellungen eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Absatz 7 AufenthG im Hinblick auf einen jungen afghanischen Staatsangehörigen, da weiterhin eine extreme Gefahr für ihn besteht, die nicht durch sonstigen gleichwertigen Schutz ausgeglichen werden kann.

Schlagwörter: Widerruf, Abschiebungsverbot, Jugendstrafe, Afghanistan, extreme Gefahrenlage, erhebliche individuelle Gefahr, Existenzgrundlage, familiärer Rückhalt, Familienangehörige, Sprachkenntnisse, Entwurzelung, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Gemessen daran liegen im Falle des Klägers weiterhin die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung dieser Vorschrift vor, weil sich in seiner Person die für alle afghanischen Staatsangehörigen bestehende allgemeine Gefahrenlage zu einer extremen Gefahr für Leib und Leben verdichtet. Die Feststellung eines solchen Abschiebungsverbotes ist im vorliegenden Falle erforderlich, weil dem Kläger kein gleichwertiger Schutz durch eine Abschiebestoppregelung nach § 60a Abs. 1 AufenthG bzw. durch eine Niederlassungserlaubnis zusteht und deshalb eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht (vgl. Fritz/Vormeier, GK-AsylVfG, § 73c Rn. 8 m.w.N.). Denn aufgrund des Erlasses des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 3. August 2005 (Az. I A 2-2086.14-12/Ri) sind junge, männliche, gesunde afghanische Staatsangehörige nunmehr vorrangig zurückzuführen, weshalb die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG für den genannten Personenkreis nicht mehr greift. Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger nach der Auskunftslage in Afghanistan erwarten würden (vgl. die in der Liste der Erkenntnismittel aufgeführten Dokumente, insb. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 2.3.2015; Gutachten Dr. D. v. 7.10.2010; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage v. Oktober 2014, S. 18 ff.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. August 2013), insbesondere die katastrophalen wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, drohen diesem nach der Überzeugung des Gerichts mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche und konkrete Gefahren für Leib und Leben, weil er in Ermangelung jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14/10 - juris Rn. 23; U.v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - juris Rn. 15 m.w.N.).

Zwar ist aufgrund der ständigen Rechtsprechung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, U.v. 20.1.2012 - 13a B 11.30425 - juris Rn. 33 ff.; U.v. 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris; U.v. 16.1.2014 - 13a B 13.30025 - juris, Rn. 23; B.v. 29.6.2015 - 13a ZB 15.30030 - juris Rn. 5 ff.) für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde; dies soll selbst dann gelten, wenn ein (Dari sprechender) Mann Afghanistan schon im Kleinkindesalter verlassen hat (BayVGH, U.v. 16.1.2014 - 13a B 13.30025 - juris Rn. 23). Dieser Rechtsprechung hat sich das erkennende Gericht auch grundsätzlich angeschlossen (vgl. VG Würzburg, U.v. 8.10.2013 - W 1 K 13.30064 - juris). Im vorliegenden Falle ist jedoch aufgrund der mangelhaften Sprachkenntnisse des Klägers, seiner vollständig westlich, d.h. durch eine nichtmuslimische Umgebung geprägten Sozialisation sowie aufgrund des Fehlens unterstützungsfähiger und unterstützungsbereiter Verwandter in der Herkunftsregion Kabul von der Verdichtung der allgemeinen Gefahrenlage zu einer Extremgefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung auszugehen. Der im Entscheidungszeitpunkt 22-jährige Kläger wurde im Bundesgebiet geboren und war noch nie in Afghanistan. Seine Eltern halten sich seit 1988 (Vater) bzw. 1992 (Mutter) im Bundesgebiet auf. Der Kläger hat nach seinen Angaben auch keine Verwandten in Afghanistan. Diese Angaben werden gestützt durch die Angaben der Mutter in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 28. März 1994 (Bl. 29 ff. der Akte des Asylerstverfahrens), dass ihr Vater verschollen und ihre Mutter sowie ihre beiden Brüder im Krieg gestorben seien. Des Weiteren hat der - fließend und im Wesentlichen fehlerfrei Deutsch sprechende - Kläger in der mündlichen Verhandlung sowie in seiner Stellungnahme zur beabsichtigten Ausweisung vom 8. Juli 2013 (Bl. 743 der Ausländerakte) angegeben, zu Hause mit seinen Eltern Deutsch zu sprechen und nur gebrochen Dari zu sprechen. Er hat erläutert, dass er auf Dari Gesprochenes zwar verstehe, sich in dieser Sprache aber nicht ausdrücken könne. Seine Eltern hätten bereits mehrere Deutschkurse besucht und seien bemüht, die deutsche Sprache zu lernen. Vor diesem Hintergrund erscheint es jedenfalls glaubhaft, dass seine Kenntnisse in dieser Sprache so lückenhaft sind, dass es ihm nicht möglich sein wird, sich in Afghanistan in einer für die dauerhafte gesellschaftliche Integration sowie für die Ausübung eines qualifizierten Berufs ausreichenden Weise auf Dari zu verständigen. Dazu stehen die aus der Ausländerakte zu entnehmenden Erkenntnisse über die Deutschkenntnisse seines Vaters nicht im Widerspruch. Zwar besitzt sein Vater wohl "nur ausreichende" Kenntnisse der deutschen Sprache (vgl. Bl. 86, 662 der Ausländerakte), dies zwingt aber nicht zu der Schlussfolgerung, dass der Kläger deshalb zu Hause mit seinen Eltern in einem ausreichendem Umfang Dari gesprochen und auch die Schrift gelernt hat. Eine wesentlich gewichtigere Bedeutung misst das Gericht jedoch der Sozialisation des Klägers zu (vgl. VG München, U. v. 30.9.2013 - M 23 K 11.30416 - juris Rn. 25 ff.). Denn der in Schweinfurt geborene und aufgewachsene Kläger hat seine prägende Sozialisation in einer westlichen Gesellschaft erhalten. Er hat selbst nie Erfahrungen in einer muslimisch-patriarchalisch geprägten Gesellschaft gesammelt. Auch seine Eltern dürften aufgrund der großen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Afghanistan seit ihrer Ausreise in den Jahren 1988 bzw. 1992 nicht mehr mit den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen im Herkunftsland vertraut sein, weshalb es ihnen auch nicht möglich war, ihren Sohn entsprechend den tatsächlichen afghanischen Gepflogenheiten zu erziehen (vgl. VG München a.a.O., Rn. 29). Vor diesem Hintergrund sind die Chancen des Klägers im Verdrängungskampf um die knappen Arbeitsmarktressourcen im Vergleich zu denen anderer junger Erwachsener in seinem Alter, die in Afghanistan aufgewachsen sind bzw. vor ihrer Ausreise dort gelebt haben oder zumindest in einem Nachbarland in einer muslimischen Umgebung sozialisiert wurden, als aussichtslos einzuschätzen. Er wäre daher trotz seiner besseren Schulbildung nicht in der Lage, mit eigener Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, zumal er auch nicht auf eine abgeschlossene Berufsausbildung zurückgreifen kann. Diese Unkenntnis der tatsächlichen Lebensumstände in Afghanistan würde auch seine Möglichkeiten, als Tagelöhner in Aushilfsjobs beispielsweise in der Baubranche oder in der Landwirtschaft ein Existenzminimum zu erwirtschaften, erheblich erschweren. Die vorhandenen Kenntnisse westlicher Sprachen (Deutsch, etwas Englisch) vermögen dies ersichtlich nicht zu kompensieren. Hinzu kommt, dass der Kläger in Afghanistan nach seinen glaubhaften Angaben auf keinerlei unterstützungsfähige und -bereite Verwandte zurückgreifen könnte. Aufgrund ihrer eigenen schwierigen Lebensumstände - die Familie erhält ALG II - könnten auch die Eltern des Klägers diesen nicht von Deutschland aus unterstützen (vgl. Bl. 86 der Ausländerakte). Es bestünde daher für ihn eine besonders erhöhte Gefahr, in Afghanistan in illegale Kreise abzurutschen und zu kriminellen Zwecken instrumentalisiert zu werden. Die Ausübung einer kriminellen Tätigkeit zur Erlangung des Lebensunterhalts ist jedoch nicht zumutbar.

Andere Widerrufsgründe sind nicht ersichtlich. Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes in der Person des Klägers ist auch nicht nach § 60 Abs. 8 AufenthG ausgeschlossen, weil diese Vorschrift keine Anwendung auf Abschiebungsverbote aufgrund nationalen Rechts (§ 60 Abs. 5, 7 AufenthG) findet (BayVGH, U.v. 16.1.2014, 13a B 13.30025 - juris Rn. 27). [...]