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VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 27.01.2016 - 2 K 3675/14.GI.A (= ASYLMAGAZIN 6/2016, S. 174) - asyl.net: M23623
https://www.asyl.net/rsdb/M23623
Leitsatz:

Zuerkennung von subsidiärem Schutz aufgrund der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure mit rein kriminellen Motiven in Afghanistan.

Schlagwörter: Afghanistan, Vorverfolgung, kriminelles Unrecht, subsidiärer Schutz, Sunniten, Schiiten, Erpressung, Drohung, ernsthafter Schaden, nichtstaatliche Verfolgung, nichtstaatlicher Akteur, Herat, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Zumutbarkeit, Beweiserleichterung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG § 3c, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Im Hinblick auf die beantragte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist die Klage unbegründet, weil nicht ersichtlich ist, dass die glaubhaft und nachvollziehbar vorgetragenen Übergriffe auf ihn und seinen Vater kurz vor seiner Flucht tatsächlich an ein asylerhebliches Merkmal i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpften. Der Kläger hat durchaus nachvollziehbar dargelegt, dass die massiven Übergriffe auf seinen Großvater und Onkel im Jahr 2006 anlässlich des Ashura-Festes einen religiös motivierten Hintergrund hatten und im Rahmen größerer Unruhen, die zwischen Sunniten und Schiiten in Herat stattfanden, passiert waren. [...]

Es ist jedoch für das Gericht nicht ausreichend plausibel dargelegt worden, dass die neuerlichen Drohgebärden und Angriffe auf seinen Vater und ihn im Jahr 2010 ebenfalls religiös motiviert waren. Vielmehr spricht einiges dafür, dass es den Erpressern und Angreifern im Jahr 2010 maßgeblich um das Erzielen einer beträchtlichen Geldzahlung ging und die Angriffe zur Durchsetzung ihrer Erpressung dienten.

Hinsichtlich der auf subsidiären Schutz gerichteten Klage (§ 4 Abs. 1 AsylG) ist diese zulässig und begründet.

Der Kläger hat nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) Anspruch darauf, dass die Beklagte ihm subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG gewährt. [...]

Da der Kläger bereits durch den Angriff, bei dem auf ihn geschossen wurde, unmenschliche und erniedrigende Behandlung erlitten hat, gilt für ihn die Beweiserleichterung, indem Artikel 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie eine widerlegbare tatsächliche Vermutung begründet, dass er im Falle der Rückkehr erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wäre.

Bezüglich der Frage des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist es nach weit verbreiteter Auffassung in der Rechtsprechung gemäß § 4 Abs. 3, § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht schon ausreichend, wenn für den Betroffenen in dem relevanten Gebiet keine Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, sondern erst dann, wenn von ihm auch vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, S. 1167; Bay. BGH, Beschluss vom 05.03.2014 - Az.: 13 A ZB 13.303807 - [juris]; OVG Nordrhein Westfalen, Urteil vom 26.08.2014 - Az.: 13 A 2998/11.A - [juris]). Das dort aufgestellte Zumutbarkeitskriterium geht über das Fehlen einer existentiellen Notlage im Rahmen der analogen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinaus und erfordert jeweils eine Prüfung des Einzelfalles. Zu berücksichtigen ist dabei auch die Schwere der drohenden Rechtsgutverletzung; je schwerwiegender diese ist, desto geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen (OVG Niedersachsen, Urteil vom. 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - m.w.N.). Da im Falle des Aufspürens des Klägers durch die um ihren "Erpressungserlös" gebrachten Verfolger dem Kläger schwerste Nachteile bis hin zur Tötung drohen, sind hier nur sehr geringe Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen.

Nach alledem ist auch bezogen auf obige Ausführungen vom Vorliegen einer landesweiten Gefährdung auszugehen. [...]