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VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 21.01.2016 - 4 K 1910/14.A - asyl.net: M23851
https://www.asyl.net/rsdb/M23851
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gefahr der Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung in Bangladesch:

Es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Bangladesch und offenem Zusammenleben mit einem Mann in einer homosexuellen Beziehung in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise verfolgt wird. Es gibt auch offensichtlich keine Landesteile von Bangladesch, in denen er vor dieser Verfolgung sicher wäre.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bangladesch, homosexuell, interne Fluchtalternative, interner Schutz, sexuelle Orientierung, Flüchtlingseigenschaft, Asylanerkennung, LGBTI, soziale Gruppe,
Normen: GG Art. 16a, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Wegen der Homosexualität droht ihm bei einer Rückkehr nach Bangladesch Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

Mit Blick auf den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ist § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG i.V.m. dem bereits in der Richtlinie 2004/83/EG im Kern inhaltsgleich enthaltenen Art 10 Abs. 1 lit. d QRL zu beachten. Hiernach gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn (a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und (b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft.

Eine Verfolgung, die an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG respektive in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU genannten Merkmale anknüpft, kann bereits in dem strafrechtlich bewehrten Verbot einer bestimmten Verhaltensweise liegen, wobei allerdings die strafrechtliche Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, d.h. eine tatsächliche Gefahr ("real risk") bestehen muss (OVG NRW, Beschluss vom 5. Januar 2016 - 11 A 324/14.A -, juris, Rdn . 16, mit Verweis auf BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, juris).

Der Umstand allein, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, stellt als solcher keine Verfolgungshandlung dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht sind und die im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung zu betrachten und beinhaltet somit eine Verfolgungshandlung (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-199 u.a./12 -, juris).

Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes aus dem Jahr 2008 und Stellungnahmen sowohl des UK Home Office vom 31. August 2013 - Country of Origin Report 2013 (Bangladesh) - als auch des Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) vom 3. Juli 2013 - Bangladesch: Homosexualität - lässt sich dazu entnehmen, dass nach § 377 des Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1860 "widernatürliche Verstöße" ("Unnatural Offences/carnal intercourse against the order of nature with man, woman or animal") mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder einer Geldstrafe strafbewehrt sind.

'Whoever voluntarily has carnal intercourse against the order of nature with any man, woman or animal, shall be punished with imprisonment for life, or with imprisonment of either description for a term which may extend to ten years, and shall also be liable to fine. Explanation. Penetration is sufficient to constitute the carnal intercourse necessary to the offence described in this section.").

Tatsächlich scheint diese Vorschrift seit der Unabhängigkeit Bangladeschs aber noch nie (so ACCORD) oder nur einmal (so UK Home Office) angewandt worden zu sein. Es habe - so ACCORD unter Berufung auf andere Quellen - in der Geschichte Bangladeschs noch keinen Fall gegeben, bei dem eine Person unter Paragraph 377 des Strafgesetzbuchs vor Gericht gestellt oder eine Klage gegen sie eingereicht worden wäre. Einigkeit besteht insoweit, als offenbar der Paragraph 377 von den Strafverfolgungsbehörden häufig verwendet wird, um Hijra (Mitglieder des sog. dritten Geschlechts), Kothi (männliche Homosexuelle, die sich weiblich geben) und LGBT (lesbian, gay, bisexual and transgender)-Paare zu schikanieren. Ferner greifen die Strafverfolgungsbehörden für ihre Schikane der o.g. Personen auf Paragraph 54 der Strafprozessordnung von 1898 zurück.

"54. (1) Any police-officer may, without an order from a Magistrate and without a warrant, arrest

- firstly, any person who has been concerned in any cognizable offence or against whom a reasonable complaint has been made or credible information has been received, or a reasonable suspicion exists of his having been so concerned;

- secondly, any person having in his possession without lawful excuse, the burden of proving which excuse shall lie on such person, any implement of house breaking;

- thirdly, any person who has been proclaimed as an offender either under this Code or by order of the Government;

- fourthly, any person in whose possession anything is found which may reasonably be suspected to be stolen property and who may reasonably be suspected of having committed an offence with reference to such thing;

- fifthly, any person who obstructs a police-officer while in the execution of his duty, or who has escaped, or attempts to escape, from lawful custody;

- sixthly, any person reasonably suspected of being a deserter from the armed forces of Bangladesh

- seventhly, any person who has been concerned in, or against whom a reasonable complaint has been made or credible information has been received or a reasonable suspicion exists of his having been concerned in any act committed at any place out of Bangladesh, which, if committed in Bangladesh, would have been punishable as an offence, and for which he is, under any law relating to extradition or under the Fugitive Offenders Act, 1881, or otherwise, liable to be apprehended or detained in custody in Bangladesh;

- eighthly, any released convict committing a breach of any rule made under section 565, subsection (3)

- ninthly, any person for whose arrest a requisition has been received from another police-officer, provided that the requisition specifies the person to be arrested and the offence or other cause for which the arrest is to be made and it appears there from that the person might lawfully be arrested without a warrant by the officer who issued the requisition."

Nach dieser Norm kann die Polizei Personen ohne Haftbefehl festnehmen, u.a. wenn diese verdächtig sind, eine erkennbare Straftat begangen zu haben oder versuchen, die Arbeit der Polizei zu behindern. In den Stellungnahmen heißt es, in den meisten Fällen werde dieser Paragraph wahllos verletzt oder missbraucht.

Auch Paragraph 74 der Verordnung der Polizeibehörde Dhaka

The Dhaka Metropolitan Police Ordinance, 1976, Section 74

"Any person who in any street or public place or within sight of, and in such manner as to be seen or heard from, any street or public place, whether from within any house or building or not,

(a) by words, gestures, or indecent personal exposure attracts or endeavours to attract attention for the purposes of prostitution; or

(b) solicits or molests any person for the purposes of prostitution;

shall be punishable with imprisonment for a term which may extend to three months, or with fine, which may extend to five hundred taka, or with both."

werde oft genutzt, um männliche Sexarbeiter und Personen, die andersgeschlechtliche Bekleidung tragen ("cross dressers"), zu schikanieren.

In den Stellungnahmen heißt es, unter Bezugnahme auch auf andere Quellen, weiter, dass die Existenz des Paragraphen 377 den staatlichen Akteuren, insbesondere der Polizei, die Möglichkeit gebe, straffrei auf außerrechtlichem und außergerichtlichem Wege gegen alle sexuellen Minderheiten vorzugehen. In der Regel diene die Schikane dazu, Bestechungsgelder oder sexuelle Gefälligkeiten zu erhalten. Die Nichterfüllung dieser Forderungen führe zu Gewalt. Die soziale Diskriminierung von Homosexuellen sei weiterhin die Norm. In Bangladesch herrsche eine Kultur der kollektiven Verneinung der Existenz von sexuellen Minderheiten. Gleichgeschlechtliche Beziehungen seien gezwungen, unsichtbar zu sein. Hijra, Kothi und andere "verweiblichte Männer" seien stark gefährdet, Opfer von Entführungen, willkürlichen Festnahmen, Inhaftierungen, Schlägen und Gruppenvergewaltigungen durch Strafverfolgungsbehörden und örtliche Schläger ("thugs") zu werden. Es gebe auch ausführliche Berichte über die physische und psychische Belästigung "verweiblichter Männer" in akademischen Einrichtungen und am Arbeitsplatz.

Damit werden die Befürchtungen, die der Kläger selbst für den Fall seiner Rückkehr nach Bangladesch und eines Auslebens seiner homosexuellen Neigungen dort geäußert hat, untermauert. Es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Bangladesch und offenem Zusammenleben mit einem Mann in einer homosexuellen Beziehung in dieser Weise verfolgt wird. Es gibt auch offensichtlich keine Landesteile von Bangladesch, in denen er vor dieser Verfolgung sicher wäre. [...]