VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 18.10.2016 - 5 A 525/16 MD - asyl.net: M24355
https://www.asyl.net/rsdb/M24355
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für einen Asylsuchenden aus Afghanistan, der dort Bauprojekte für ausländische Streitkräfte durchführte und deshalb von den Taliban bedroht wurde:

1. Der Erhalt eines Drohbriefs stellt bereits Vorverfolgung i.S.d. Art. 4 Abs. 4 QualifikationsRL 2011/95/EU dar.

2. Die Einschätzung des BAMF zur Glaubhaftigkeit der Vortrags des Betroffenen ist für das Gericht nicht überzeugend, weil eine Personenidentität zwischen Anhörerin und Entscheiderin nicht bestand.

3. Bei der Bedrohung durch die Taliban handelt es sich um Verfolgung aus politischen Gründen.

4. Der afghanische Staat bietet keinen Schutz vor nichtstaatlichen Akteuren.

5. Es besteht keine zumutbare inländische Fluchtalternative, da Betroffene landesweit nicht vor Nachstellungen durch die Taliban sicher sind.

Schlagwörter: Afghanistan, Berufsgruppe, Bauprojekte, NATO, Streitkräfte, politische Verfolgung, Taliban, Drohbrief, Vorverfolgung, Qualifikationsrichtlinie, interner Schutz, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Glaubwürdigkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Drohung, Bedrohung, night letters,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3c, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3a, AsylG § 3d, AsylG § 3e
Auszüge:

[...]

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

Der Einzelrichter glaubt dem Kläger, dass er in der Zeit von 2004 bis 2015 mit Unterbrechungen für verschiedene Firmen tätig gewesen ist, die im Bereich Bau und Logistik für die in Afghanistan stationierten ausländischen Truppen tätig gewesen sind. [...]

Der Kläger hat zudem glaubhaft gemacht, dass sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit wegen seiner Tätigkeit für diese Firmen durch die Taliban bedroht worden sind, er Afghanistan also vorverfolgt verlassen hat. Der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, dass er am 02.02.2015 einen Drohbrief von den Taliban erhalten hat, wonach er aufgefordert worden sei, seine Tätigkeiten für die Ungläubigen einzustellen. [...]

Der Einzelrichter hat auch im Übrigen keine Zweifel an der Echtheit dieses Drohbriefes. Von derartigen Drohbriefen (sog. "night letters") wird in den amtlichen Auskünften vielfach berichtet. […] Deshalb ist es entgegen der Auffassung des Bundesamtes auch unschädlich, dass der Kläger keine Angaben dazu machen konnte, in welcher Weise der Kläger bestraft werden soll. Soweit dem Kläger mit "Konsequenzen" gedroht wurde, ist unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln bei lebensnaher Betrachtung von (konkret drohenden) Angriffen auf Leib und Leben des Betroffenen auszugehen. [...] Von einer (konkret drohenden) Verfolgung des Klägers durch die Taliban ist im vorliegenden Fall auch deshalb auszugehen, weil der Kläger glaubhaft geschildert hat, dass bereits zwei seiner Cousins, die in ähnlicher Weise wie der Kläger tätig gewesen sind, nach Erhalt eines vergleichbaren Drohbriefes von den Taliban mittlerweile getötet worden sind.

Da diese Drohbriefe im Übrigen kein einheitliches Erscheinungsbild haben, ist es ohnehin kaum möglich, über die Echtheit derartiger Schreiben abschließend zu befinden (EASO, a.a.O., S. 24: ".. it is hard to verify whether they are genuine or not"). [...]

Der Kläger war auch nicht gehalten, weitere (ggf. tödlich endende) Übergriffe durch die Taliban abzuwarten. Dass der Kläger insbesondere noch die Zeit gefunden hat, das begonnene Bauprojekt während der nächsten zwei Monate zu Ende zu führen, stand seiner konkreten Bedrohung nicht entgegen. Der Kläger hat hierzu in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, dass er zum einen Zeit benötigt habe, um die verschiedenen Papiere und Bestätigungsschreiben zu besorgen. Zum anderen habe er sich während dieser Zeit sehr wachsam verhalten, da er große Angst gehabt habe.

Was den weiteren Einwand des Bundesamtes anbelangt, es sei wenig plausibel, dass die Taliban den Kläger erst nach vielen Jahren seiner Zusammenarbeit mit der NATO bedroht haben sollen, so vermag der Einzelrichter diese Einschätzung nicht zu teilen.

Allein hieraus auf die Unglaubhaftigkeit des diesbezüglichen Vortrags zu schließen, greift jedenfalls dann zu kurz, wenn an dem übrigen Vorbringen des Klägers zu Zweifeln kein Anlass besteht. Dies ist vorliegend der Fall. Im Übrigen mag das Verhalten der Taliban im Einzelfall nicht immer nachvollziehbar sein und die jeweiligen Motive im Dunkeln bleiben. Dass die Taliban erst im Jahr 2015 auf den Kläger aufmerksam geworden sind, mag mit dem Rückzug der ausländischen Truppen und dem damit verbundenen Erstarken der Taliban im Jahr 2015 (vgl. hierzu Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update zur aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan vom 30.09.2016, S. 3) zusammenhängen. Entsprechend heißt es in dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes, dass es immer wieder zu Angriffen gegen Zivilisten komme, die für die afghanische Regierung oder internationale Organisationen arbeiteten, was im Jahr 2015 zu einem Anstieg derartiger Angriffe um 27 % geführt habe (Lagebericht vom 19.10.2016, S. 20). Das Risiko von Zivilisten, derartigen Angriffen ausgesetzt zu sein, ist deshalb in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und hat sich im Jahr 2015 für den Kläger realisiert. [...]

Im Übrigen mag die abweichende Einschätzung der Glaubwürdigkeit des Klägers durch das Bundesamt das Gericht schon deshalb nicht überzeugen, weil eine Personenidentität zwischen Anhörerin (...) und Einzelentscheiderin (...) nicht besteht.

Soweit der Kläger von den Taliban bedroht wurde, handelte es sich auch um eine "politische" Verfolgung im oben beschriebenen Sinne.

Den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln lässt sich entnehmen, dass die Taliban in allen Personen, die in irgendeiner Weise die afghanische Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, Kollaborateure der "Invasoren" sehen, denen Vergeltung angedroht wird. Insbesondere ist davon auszugehen, dass in Afghanistan Personen, die verdächtigt werden, die afghanische Regierung oder internationale Streitkräfte zu unterstützen, in Gefahr stehen, verfolgt und getötet zu werden. Hierbei gehört es zu einem Grundsatz der Taliban, sowohl die von ihnen im politischen Kampf um die Macht in Afghanistan umkämpften Personen selbst als auch deren Angehörige zum Ziel von Angriffen zu machen. Gleichzeitig lassen die Erkenntnismittel erkennen, dass sich das Vorgehen der Taliban im weitesten Sinne als Auseinandersetzung um die Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen in Afghanistan im gesellschaftlichen und staatlichen Raum verstehen lässt und damit einen öffentlichen Bezug hat. Die Drohungen und gewaltsamen Übergriffe der Taliban sind auf Leib, Leben oder persönliche Freiheit der jeweils betroffenen Person gerichtet, um deren (vermeintliche) oppositionelle Einstellung zu bekämpfen. Damit handelt es sich bei den vorliegend in Rede stehenden Übergriffen der Taliban auch nicht nur um "privates Unrecht Dritter", sondern um eine politische Auseinandersetzung. [...]

Die Islamische Republik Afghanistan ist auch erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung der nichtstaatlichen Akteure zu bieten. [...] Nach der Auskunftslage sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt. Eine Schutzfähigkeit des Staates vor Übergriffen Dritter ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers nicht gegeben. […]

Dem Kläger stand und steht auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung, um bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung der Taliban auszuweichen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger andernorts in Afghanistan vor Nachstellungen durch die Taliban sicher ist. Auch insoweit kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL zugute. Die Auskunftslage lässt auch nicht den gesicherten Schluss zu, dass die Furcht des Klägers vor Übergriffen unbegründet wäre. Das durch seine Flucht entstandene Misstrauen der Taliban dem Kläger gegenüber wird sich durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik weiter verfestigt haben. Nach den Erkenntnissen des UNHCR ist überdies zu bedenken, dass einige Befehlshaber und bewaffnete Gruppen als Urheber von Verfolgung sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene agieren. In einigen Fällen sind sie eng mit der örtlichen Verwaltung verbunden, während sie in anderen Fällen Verbindungen zu mächtigeren und einflussreichen Akteuren einschließlich auf der zentralen Ebene verfügen und von diesen geschützt werden. Der Staat ist hierbei nicht in der Lage, Schutz vor Gefahren, die von diesen Akteuren ausgehen, zu gewährleisten. Die Verbindungen zu anderen Akteuren kann - abhängig vom Einzelfall - eine Person einer Gefahr aussetzen, die über das Einflussgebiet eines lokalen Befehlshabers hinausgeht, einschließlich in Kabul. Sogar in einer Stadt wie Kabul, die in Viertel eingeteilt ist, wo sich die Menschen zumeist untereinander kennen, bleibt eine Verfolgungsgefahr bestehen, da Neuigkeiten über eine Person, die aus einem anderen Landesteil oder dem Ausland zuzieht, potentielle Akteure einer Verfolgung erreichen können (UNHCR, Auskunft an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 30.11.2009, S. 4). Im Hinblick auf die Frage, ob für den Kläger eine begründete Furcht vor Verfolgung auch außerhalb seiner Herkunftsregion bestünde, kann es auch nicht darauf ankommen, wie hoch möglicherweise eine statistische Wahrscheinlichkeit für eine erneute Verfolgung wäre, sofern sich eine solche überhaupt berechnen ließe. Insofern verbietet es der humanitäre Charakter des Asyls, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.05.2009 - 10 C 21.08 – juris). [...]