VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 10.11.2016 - 11 L 1842/16.A - asyl.net: M24389
https://www.asyl.net/rsdb/M24389
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz gegen die Abschiebung von in Bulgarien anerkannten Flüchtlingen und ihrem in Deutschland geborenen Kind:

1. Die Zustellung des Bescheides nur an die Betroffenen trotz anwaltlicher Vertretungsanzeige setzt die Rechtsbehelfsfrist nicht in Lauf.

2. Die Abschiebungsandrohung gegen das Kind ist offensichtlich rechtswidrig, da § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht anwendbar ist weil ihm kein internationaler Schutz durch Bulgarien gewährt worden ist. Ferner ist Bulgarien nicht nach Art. 9 Dublin III-VO für sein Asylverfahren zuständig, da insbesondere keine schriftliche Erklärung der Betroffenen zur Zusammenführung zu schutzberechtigten Familienangehörigen vorliegt.

3. Daraus folgt, dass auch die Abschiebungsandrohung gegen die Eltern rechtswidrig ist. Bezüglich der Eltern liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK vor, da bei ihrer Abschiebung die Familieneinheit gefährdet wäre, weil Deutschland für das Asylverfahren ihres Kindes zuständig ist.

4. Die Unzulässsigkeitsentscheidung und Abschiebungsandrohung ist nach § 37 Abs. 1 S. 1 AsylG unwirksam, daher hat das BAMF das Asylverfahren der ganzen Familie durchzuführen.

Schlagwörter: Drittstaatenregelung, sichere Drittstaaten, Familieneinheit, ausländische Anerkennung, anerkannter Flüchtling, unzulässig, in Deutschland geborenes Kind, Bulgarien, nachgeborenes Kind, Abschiebungsverbot, Flüchtlingsanerkennung, Kind, Eltern, Familienangehörige, Zustellung, Prozessbevollmächtigte, Frist, Klagefrist, Rechtsbehelfsfrist, Dublin III-Verordnung,
Normen: VwZG § 7 Abs. 1 S. 2, AsylG § 35, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, VO 604/2013 Art. 9, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 8, AsylG § 37 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthafte Antrag ist auch im Übrigen zulässig. Er ist insbesondere am 24.10.2016 fristgerecht gestellt worden. Ein konkretes Zustellungsdatum des Bescheides vom 11.10.2016 lässt sich dem vom Bundesamt auf elektronischem Wege übermittelten Verwaltungsvorgang nicht entnehmen. Die Zustellung hätte jedoch gern. § 7 Abs. 1 Satz 2 VwZG statt an die Antragsteller zu 1. und 2. persönlich an ihren Prozessbevollmächtigten erfolgen müssen. Dieser hatte am 06.10.2016 mit Vollmachtvorlage die Vertretung der Antragsteller gegenüber dem Bundesamt angezeigt. Erfolgt entgegen § 7 Abs. 1 Satz 2 VwZG die Zustellung - wie hier - an die Betroffenen selbst, wird keine Frist in Lauf gesetzt (vgl. Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth, VwGO, 6. Aufl. 2014, § 74 Rn. 5; Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 20. Aufl. 2014, § 74 Rn. 5. [...]

Ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegt hier in Bezug auf die Antragsteller zu 1. und 2. vor, weil Bulgarien diesen ausweislich der Mitteilungen vom 15.09.2016 (Bl. 82f. d. Bundesamtsakte) bereits internationalen Schutz zuerkannt hat. Ein solcher Fall liegt nicht vor in Bezug auf die am 13.08.2015 in der Bundesrepublik Deutschland geborene Antragstellerin zu 3., da dieser bislang - soweit ersichtlich - kein entsprechender Schutz durch den bulgarischen Staat zuerkannt worden ist. Dass die Antragsteller zu 1. und 2. gegen den bulgarischen Staat möglicherweise einen Anspruch auch auf Zuerkennung internationalen Schutzes für ihre Tochter haben, ändert hieran nichts.

Eine Zuständigkeit Bulgariens für den in Deutschland am 19.08.2016 gestellten Asylantrag der Antragstellerin zu 3. ließe sich nur über das Verfahren nach Art. 9 der Verordnung (EU) Nr. 60412013 (im Folgenden: Dublin III-VO) erreichen. Ein entsprechendes Verfahren wurde für die Antragstellerin zu 3. seitens des Bundesamtes jedoch nicht durchgeführt. Die Voraussetzungen des Art. 9 Dublin III-VO liegen auch nicht vor, da hierfür das schriftliche Einverständnis aller Betroffenen erforderlich wäre, das Asylverfahren der Antragstellerin zu 3. in Bulgarien durchzuführen. Für eine solche Erklärung ist nichts ersichtlich. Die Antragsteller zu 1. und 2. haben in ihrer ergänzenden Befragung am 05.10.2016 das Gegenteil bekundet.

Im Hinblick auf die Antragstellerin zu 3. erweist sich daher der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtswidrig.

Aus Vorstehendem folgt unmittelbar, dass auch die Abschiebungsandrohung hinsichtlich der Antragsteller zu 1. und 2. keinen Bestand haben kann. Aufgrund von § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG darf in einem Fall des § 29 AsylG (Unzulässigkeit des Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland) eine Abschiebungsandrohung nur dann ergehen, wenn Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (vgl. Pietzsch, in Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 11. Edition, Stand: 15.08.2016, § 35 AsylG Rn. 9).

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK liegt im vorliegenden, konkreten Einzelfall jedoch vor. Die Antragsteller zu 1. und 2. sind Eltern der in Deutschland geborenen Antragstellerin zu 3., für deren Asylantrag nach derzeitigem Erkenntnisstand die Bundesrepublik Deutschland zuständig ist. Aufgrund der Wertungen des Art. 8 EMRK ist eine Abschiebung der Antragsteller zu 1. und 2. nach Bulgarien ausgeschlossen. Andernfalls wäre die Familieneinheit gefährdet. Es Ist den Antragstellern zu 1. und 2. nicht zumutbar, zunächst nach Bulgarien abgeschoben zu werden und im Nachhinein von dort aus das Asylverfahren ihrer Tochter in Deutschland abzuwarten und anschließend ggf. ein Familienzusammenführungsverfahren entweder in Deutschland oder Bulgarien zu betreiben.

Das Gericht weist vorsorglich darauf hin, dass die Entscheidungen des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Asylantrags sämtlicher Antragsteller nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und die Abschiebungsandrohung aufgrund dieser stattgebenden gerichtlichen Entscheidung gem. § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG unwirksam werden. Das Bundesamt hat aufgrund dieser Entscheidung des Verwaltungsgerichts das Asylverfahren sämtlicher Antragsteller von Gesetzes wegen im nationalen Verfahren durchzuführen (§ 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG). Es ist unerheblich, aus welchen Gründen das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat (vgl. Pietzsch, in Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, a.a.O., § 37 AsylG Rn. 3.1, m.w.N.).