OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 14.06.2002 - 1 Bf 38/02.A - asyl.net: M2446
https://www.asyl.net/rsdb/M2446
Leitsatz:

Eine extreme Gefahrenlage, die zur Bewilligung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG führt, liegt für Rückkehrer nach Afghanistan jedenfalls im Kabuler Raum nicht (mehr) vor (Änderung der Rechtsprechung des Senats, vgl. Urt. v. 23.2.2001, 1 Bf 127/98.A).(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Afghanistan, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Sicherheitslage, Übergriffe, Verminung, Versorgungslage, Existenzminimum, Soziale Bindungen, Hilfsorganisationen, Alleinerziehende Frauen, Extreme Gefahrenlage, Politische Entwicklung, Taliban, Gebietsgewalt, Übergangsregierung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Die Berufungen der Kläger sind unbegründet und daher zurückzuweisen. Das Verwaltungsgericht hat die Klagen, die bereits in erster Instanz auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG beschränkt worden sind, im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG liegen bei den Klägern nicht vor. Es kommt auch keine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift wegen einer extremen Gefahrenlage in Betracht.

Der erkennende Senat hatte im Urteil vom 23. Februar 2001 (1 Bf 127/98.A) erstmals angenommen, dass für Rückkehrer nach Afghanistan, die dort keine Familienmitglieder oder einen sonstigen Rückhalt vorfinden würden, eine derartige extreme Gefahrenlage gegeben ist, die ihrer Abschiebung nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG entgegensteht. Grund dafür war insbesondere die seinerzeit bestehende katastrophale Versorgungslage.

Diese Situation, die bis weit in den Sommer des Jahres 2001 andauerte (vgl. zuletzt Urteil des Senats v. 27.7.2001, 1 Bf 61/98.A), hat sich inzwischen jedenfalls für den Kabuler Raum wesentlich geändert. Durch das militärische Eingreifen der USA in Afghanistan ab Anfang Oktober 2001 ist die Herrschaft der Taliban von der Nordallianz mit Hilfe der Amerikaner inzwischen im Wesentlichen zerschlagen worden (Einnahme Kabuls Mitte November und Kandahars Anfang Dezember 2001). Auf der Afghanistan-Konferenz in Bad Godesberg im Dezember 2001 ist eine aus Vertretern verschiedener Volksstämme zusammengesetzte erste Übergangsregierung unter dem gemäßigten Paschtunen Hamid Karzai für zunächst sechs Monate eingesetzt worden. Diese Regierung, die durch eine internationale Friedenstruppe, zu der u.a. Deutsche, Briten und Türken gehören, unterstützt wird, soll im Juni diesen Jahres nach einer großen Stammesversammlung von einer zweiten Übergangsregierung für 18 Monate abgelöst werden. Vor diesem allgemeinen Hintergrund bietet sich auf Grund der in das Verfahren eingeführten Quellen insbesondere zur Sicherheits- und Versorgungslage derzeit im Einzelnen folgendes Bild:

Die Sicherheitslage schwankt je nach Landesteil. Während sich die Situation in Kabul seit dem Eintreffen der International Security Assistance Force (ISAF) Anfang des Jahres 2002 nachhaltig verbessert hat, sieht es in anderen Teilen Afghanistans entweder deutlich schlechter aus oder ist die Sicherheitssituation dort mangels Nachrichten immer noch mehr oder weniger undurchschaubar. Kabul wird inzwischen als eine "verhältnismäßig sichere Stadt" bezeichnet, in der die Chance, ermordet zu werden, nach Äußerung des ISAF-Befehlshabers Generalmajor John McColl fünfmal geringer sein soll als etwa in Washington (FAZ v. 23.5.2002).

Anders als in Kabul und seiner unmittelbaren Umgebung sieht es mit der Sicherheit in vielen anderen Landesteilen aus. Einmal finden in manchen Gegenden immer noch Kämpfe mit Resten der Taliban bzw. der Al Kaida-Organisation statt, so etwa im Osten in der Provinz Khost (NZZ v. 3.5. und 14.5.2002). Zum anderen häufen sich zum Teil Berichte über Überfälle; an den Überlandstraßen werden Wegezölle erhoben und Menschen erschossen (SZ v. 25.3.2002). Die paschtunische Minderheit im Norden des Landes wird zunehmend drangsaliert, manche Anzeichen sprechen für eine systematische Vertreibung (SZ v. 22.2.2002). Vielfach behindern auch Minen, die zu Millionen im Lande existieren, die Rückkehr von Flüchtlingen (so z.B. für die Shomali-Ebene nördlich von Kabul: NZZ v. 23.4.2002).

Zusammenfassend lässt sich hieraus entnehmen, dass jedenfalls im Bereich Kabul, was die Sicherheit angeht, keineswegs mehr von einer extremen Gefahrenlage gesprochen werden kann.

Ein ähnliches Bild ergibt sich auch für die Versorgungslage. Hier ist die Situation im Kabuler Raum ebenfalls deutlich besser als in vielen anderen Teilen des Landes. Zwar sind nach Einschätzung des UNO-Welternährungsprogramms (WFP) auch jetzt noch etwa 40 % der afghanischen Bevölkerung auf Hilfslieferungen angewiesen, um zu überleben. Erst zu Erntebeginn im Juli wird hier eine Entspannung der Lage erwartet (NZZ v. 3.5.2002). Auf Grund der bereits erfolgten und der zugesagten internationalen Hilfe kann aber mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass eine allgemeine Hungersnot nicht eintreten wird. Die Situation ist insoweit deutlich günstiger als in den letzten Jahren unter der Taliban-Herrschaft.

Berichte über Nahrungsmittelknappheit in Kabul gibt es aus jüngster Zeit nicht. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die internationalen Hilfsorganisationen dort irgendwie in ihrer Arbeit behindert würden.

Angesichts der gesetzlichen Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG bei allgemeinen Gefahren kann eine extreme Gefahrenlage nur unter sehr engen Voraussetzungen angenommen werden, wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 12. Juli 2001 (DVBl. 2001 S. 1531) - erneut - betont hat. Sie liegt nur dann vor, wenn der Ausländer durch eine Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Hiervon kann bei den Klägern auch nicht etwa deshalb ausgegangen werden, weil diese bei einer Abschiebung nach Afghanistan ohne männlichen Schutz wären. Aus der Quellenlage ergibt sich - worauf der erkennende Senat die Kläger in der Sitzung vom 14. Juni 2002 ebenfalls hingewiesen hat - kein Anhaltspunkt dafür, dass die Kläger befürchten müssten, von den Versorgungsleistungen der Hilfsorganisationen ausgeschlossen zu werden.