VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A - asyl.net: M24553
https://www.asyl.net/rsdb/M24553
Leitsatz:

Feststellung der Flüchtlingseigenschaft wegen Asylantragstellung im Ausland: Auf Grund der aktuellen Situation müssen grundsätzlich alle aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Asylsuchenden unabhängig von einer Vorverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG zu erleiden. Die drohende Verfolgungshandlung knüpft an eine vermutete regimekritische und regimefeindliche Einstellung an - unabhängig davon, ob die betreffende Person legal oder illegal aus Syrien ausgereist ist.

Schlagwörter: Syrien, Flüchtlingsanerkennung, Rückkehrgefährdung, legale Ausreise, illegale Ausreise, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylantragstellung
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Hiervon ausgehend liegen hinsichtlich des Klägers die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung vor.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der aus Syrien stammende Kläger im Falle seiner Rückkehr in sein Herkunftsland aufgrund von Nachfluchtgründen Verfolgungsmaßnahmen aus politischen Gründen zu befürchten hätte, denn alle aus Deutschland zurückkehrenden Asylbewerber müssen grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach ihrer Rückkehr mit einer politischen Verfolgung durch das Assad-Regime rechnen. Eine Ausnahme gilt insbesondere für diejenigen aus Syrien stammenden Asylbewerber, die nachweislich mit der syrischen Regierung zusammen arbeiten, etwa als Agent für den syrischen Geheimdienst in Deutschland. Unter diese Ausnahme fällt der Kläger nicht.

Auf Grund der aktuellen Situation müssen grundsätzlich alle aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Asylbewerber unabhängig von einer Vorverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG zu erleiden (dazu I.). Die drohenden Verfolgungshandlungen knüpfen an eine bei ihnen vermutete regimekritische und regimefeindliche Einstellung an, so dass eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen einer politischen Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG besteht (dazu II.).

I. Sowohl das Bundesamt als auch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung gehen davon aus, dass in Syrien seit Beginn des Bürgerkrieges im März 2011 gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung von Foltermethoden droht (vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris, Rn. 36, Beschluss vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A -, Juris, Rn. 12; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, Juris, Rn. 27; VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 - 1 K 5093/16.TR -, Juris).

Ausgangslage dieser Einschätzung ist die Behandlung der Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebestopps im April 2011 aus Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben worden sind. Es ist eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen abgeschobene syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, m.w.N., Juris, Rn. 27 – 37; VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR -, m.w.N., Juris, Rn. 34 f.).

Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs hat sich die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung von nach Syrien zurückkehrenden abgelehnten Asylbewerbern erheblich verschärft.

Die syrischen Sicherheitskräfte gehen mit unverminderter Härte gegen vermeintliche Oppositionelle vor. Nach den vorliegenden Erkenntnissen sind seit Beginn des Bürgerkrieges Zehntausende inhaftiert und schwerster Folter und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt worden. Nach vorsichtigen Schätzungen sind mindestens 17.723 Menschen zwischen dem 15. März 2011 und dem 31. Dezember 2015 in der Haft getötet worden. Jeder, der unter dem Verdacht steht, regimekritisch zu sein, unterliegt dem Risiko willkürlicher Inhaftierung, Folter und anderer Misshandlungen, des Verschwindenlassens und des Todes während der Haft (vgl. VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 6664/15.A -, Juris, Rn. 25 unter Bezugnahme auf den Bericht von Amnesty International vom 18. August 2016: It breaks the human – Torture, Disease and Death in Syria’s Prisons).

Nach den vorliegenden Erkenntnissen, die sich auch auf das Schicksal von Personen beziehen, die in jüngerer Vergangenheit durch nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt worden sind, besteht für Rückkehrer aus dem Ausland generell die Gefahr, verhaftet und misshandelt zu werden. Insbesondere Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hatten, werden im Falle ihrer Rückkehr regelmäßig inhaftiert und stehen in konkreter Gefahr, gefoltert zu werden, um die Gründe ihrer Ausreise zu offenbaren. Zudem wird in vielen Fällen der Vorwurf gegen die Rückkehrer erhoben, der Regierung gegenüber feindselig eingestellt zu sein und im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. In diesen Fällen riskiert der erfolglose Asylsuchende eine lange Inhaftierung oder Folter (vgl. VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 - 1 K 5093/16.TR -, Juris, Rn. 46 unter Bezugnahme auf den Bericht der kanadischen Einwanderungs- und Flüchtlingskommission (Immigration and Refugee Board of Canada) vom 19. Januar 2016: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion, www.refworld.org/ publisher,IRBC,,SYR,56d7fc034,0.html).

Darüber hinaus hat der syrische Staat ein erhebliches Interesse daran, die exilpolitischen Aktivitäten der syrischen Opposition in Deutschland auszuspähen. Die syrischen Geheimdienste verfügen mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz, mit dem die im Ausland lebenden Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des sog. "Arabischen Frühlings" hat sich nach den Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität der syrischen Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 -, Juris, Rn. 38; VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR -, Juris, Rn. 37 und 69 ff.).

Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter dem Gesichtspunkt möglicher Kenntnisse von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Rückkehrende Asylbewerber stehen generell unter dem Verdacht, Kenntnisse über die syrische Exilszene zu haben. Es besteht die Gefahr, dass diesem Verdacht bis zur vollständigen Abschöpfung des Rückkehrers unter Folter nachgegangen wird (vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 - 14 A 2708/14.A -, Juris, Rn. 41 und 50).

II. Die den nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerbern drohende Verfolgung knüpft an eine bei ihnen vermutete politische Überzeugung und damit an ein Merkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an, so dass grundsätzlich für alle nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber die Gefahr einer Verfolgung aufgrund ihrer politischen Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013 - A 11 S 927/13 -, Juris, Rn. 14; VG München, Urteil vom 17. März 2016 - M 22 K 5.30256 -, Juris, Rn. 46; ebenso für den Fall der Illegalen Ausreise aus Syrien: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, Juris, Rn. 24; VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RN 11 K 16.30666, Juris, Rn. 31; VG Düsseldorf, Urteil vom 10. August 2016 – 3 K 7501/16.A -, Juris, Rn. 15; VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 6664/15.A -, Juris, Rn. 20; VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 -, Juris, Rn. 17; VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR -, Juris, Rn. 85; a.A: OVG NRW, Beschluss vom 6. Oktober 2016 -14 A 1852/16.A -, Juris, Rn. 16).

Nach Überzeugung des Gerichts sieht der syrische Staat grundsätzlich in jedem Rückkehrer, der in Westeuropa ein Asylverfahren betrieben hat und sich dort längere Zeit aufgehalten hat, einen potentiellen Gegner des Regimes.

Bereits die Gefahr der Androhung und Anwendung von Folter gegenüber Rückkehrern stellt ein Indiz für eine politische Verfolgung dar. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer bis zur vollständigen Abschöpfung verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 2013, A 11 S 927/13 -, Juris, Rn. 14).

Wenn Rückkehrer im Verdacht stehen, Kontakt zur syrischen Exilszene in Deutschland zu haben, wird bei ihnen von den syrischen Sicherheitskräften auch eine regimefeindliche Gesinnung vermutet. Anderenfalls wäre die Anwendung von Folter nicht erforderlich, denn ein Rückkehrer, der nicht in Gegnerschaft zur syrischen Regierung steht, würde auch ohne Androhung von Folter den Sicherheitskräften alle relevanten Informationen von sich aus offenbaren.

Des Weiteren lassen die syrischen Behörden seit Beginn des Bürgerkrieges geringfügige Umstände ausreichen, damit der Betroffene in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012- 3 L 147/12 -, Juris, Rn. 77).

Zu diesen Umständen gehören die Ausreise aus Syrien sowie die Asylantragstellung in Westeuropa. Die Ausreise aus Syrien während des Bürgerkrieges wird als Aufkündigung der von der syrischen Regierung erwarteten Loyalität im Kampf gegen die Gegner des Regimes sowie als Verrat am syrischen Volk angesehen. Wer in einer Situation, in der Syrien aus Sicht seiner Machthaber gegen "Terroristen" kämpft, dem Staat den Rücken kehrt, gerät zwangsläufig in den Verdacht der Regimegegnerschaft. Auch die Stellung eines Asylantrages in Westeuropa stellt aus Sicht des syrischen Regimes eine besondere Treuepflichtverletzung gegenüber dem syrischen Staat dar. Dabei wird den Rückkehrern nicht nur vorgeworfen, Missstände in Syrien angeprangert und den syrischen Staat international in ein schlechtes Licht gerückt zu haben, sondern sie werden auch beschuldigt, dem als feindlich angesehenen Westen mögliche Argumente für ein diplomatisches oder gar militärischen Vorgehen gegen das Assad-Regime geliefert zu haben. Der Asylsuchende macht sich aus Sicht des Regimes zum Komplizen der Feinde des syrischen Staates.

Die massenhafte Flucht von Syrern in die Nachbarländer sowie nach Westeuropa insbesondere im Jahre 2015 sowie die weitere Entwicklung im syrischen Bürgerkrieg führen zu keiner anderen Einschätzung. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung zu systematischen Verfolgungsmaßnahmen angesichts der Massenausreise und des zwischenzeitlichen partiellen Zusammenbruchs staatlicher Strukturen schon aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage wäre oder kein Interesse mehr an solchen hätte. Dagegen spricht schon die in der jüngsten Vergangenheit erfolgte deutliche Stärkung des syrischen Regimes im Bürgerkrieg (vgl. VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 - 1 K 5093/16.TR -, Juris, Rn. 90).

Auch wenn dem syrischen Staat bekannt ist, dass die übergroße Zahl der syrischen Asylbewerber vor den Gefahren des Bürgerkriegs nach Westeuropa geflohen ist, folgt daraus nicht, dass Rückkehrern generell keine regimefeindliche Gesinnung unterstellt wird (a.A.: OVG NRW, Beschluss vom 6. Oktober 2016 -14 A 1852/16.A -, Juris, Rn. 18). [...]

Zum anderen werden zurückkehrende Asylbewerber von den syrischen Sicherheitskräften generell beschuldigt, Falschinformationen über Syrien im Ausland verbreitet zu haben und gegen das Regime eingestellt zu sein (vgl. Bericht der kanadischen Einwanderung- und Flüchtlingskommision (Immigration and Refugee Board of Canada) vom 19. Januar 2016: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion, www.refworld.org/publisher,IRBC,,SYR,56d7fc034,0.html).

Nach Einschätzung des Gerichts kommt es für die Annahme einer politischen Verfolgung nicht darauf an, ob ein Asylbewerber illegal aus Syrien ausgereist ist. Legal ist eine Ausreise aus Syrien dann, wenn sie mit einem gültigen Reisepass und - falls erforderlich - mit einem Ausreisevisum über einen offiziellen Grenzort erfolgt (vgl. Schweizerisches Bundesamt für Migration, Auskunft vom 2. November 2009: Focus Syrien - Illegale Ausreise und längerer Auslandsaufenthalt). Eine legale Ausreise bedeutet lediglich, dass die syrischen Behörden mit einer Ausreise der Person in eines der Nachbarländer, in erster Linie nach Jordanien, in den Libanon und in die Türkei einverstanden sind. Eine Billigung der Ausreise in das aus Sicht des syrischen Regimes feindliche westeuropäische Ausland, um dort einen Asylantrag zu stellen, ist damit nicht verbunden.

Das Bundesamt hat für seine Entscheidung, syrischen Asylbewerbern - in Abweichung von der früheren Entscheidungspraxis - nicht generell die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, keine durchgreifenden Gründe dargelegt. Aus zahlreichen Verfahren ist dem Gericht bekannt, dass das Bundesamt zur Begründung seiner geänderten Entscheidungspraxis auf eine neue Passpraxis Syriens abstellt, die im Jahr 2015 zur Ausstellung von mehr als 800.000 Pässen geführt hat. Ein Zusammenhang zwischen syrischer Passpraxis und Rückkehrgefährdung besteht jedoch nicht. Angesichts der ungebremsten Eskalation der politischen und militärischen Auseinandersetzung in Syrien ist nicht im Ansatz erkennbar, dass das Informations- und Verfolgungsinteresse des um seinen Machterhalt kämpfenden syrischen Regimes an Rückkehrern aus dem westlichen Ausland nachgelassen haben könnte. Vielmehr ist das Gegenteil anzunehmen (vgl. VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 6664/15.A -, Juris, Rn. 24).

Die geänderte Passpraxis Syriens beruht in erster Linie auf finanziellen Gründen. Der syrische Staat ist aufgrund des Bürgerkrieges darauf angewiesen, die Einnahmesituation zu verbessern. Dies geschieht auch durch die massenhafte Ausstellung von Pässen. Die dafür erhobenen Gebühren kommen dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugute. Ein neuer Pass, der beispielsweise in einer syrischen Botschaft im Ausland ausgestellt wird, kostet derzeit 400 US-Dollar. Bei Bezahlung der Gebühr erhält grundsätzlich jeder Syrer einen Pass; selbst oppositionsnahe Syrer haben über einen Anwalt einen neuen Pass erhalten (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 3. Februar 2016). [...]