VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Beschluss vom 23.08.2016 - 2 L 1277/16.A - asyl.net: M24729
https://www.asyl.net/rsdb/M24729
Leitsatz:

Verpflichtung des BAMF der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig die Abschiebung nach Ungarn nicht erfolgen darf:

1. In Ungarn bestehen nach ständiger Rechtsprechung der Kammer "systemische Mängel", aufgrund derer im Falle der Rückführung nach Ungarn die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht.

2. Wenn die Rechtsbehelfsfrist gegen einen Dublin-Bescheid abgelaufen und dieser damit bestandskräftig geworden ist, kann ein Wiederaufgreifensantrag beim BAMF gestellt und ggf. im Hauptsacheverfahren im Wege der Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO eine Sachentscheidung erzwungen werden. Zur Sicherung dieses Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Verfahrens kann das Gericht nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO gegenüber dem BAMF anordnen, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht abgeschoben werden darf (zitiert VGH Bayern, Beschluss vom 14.10.2015 - 10 CE 15.2165, 10 C 15.2212 - asyl.net: M23562).

3. Auch bei einem bestandskräftigen Dublin-Bescheid hat bei der Entscheidung, ob eine Abschiebung tatsächlich durchzuführen ist, sowohl das BAMF als auch die Ausländerbehörde die Umstände im Zielland der Abschiebung (hier: Ungarn) zu berücksichtigen.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Ungarn, systemische Mängel, Aufnahmebedingungen, Asylverfahren, Wiederaufnahme, Wiederaufnahme des Verfahrens, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Bestandskraft, Zuständigkeit,
Normen: VwGO § 29 Abs. 1, AsylG § 34a Abs. 1, VwGO § 42 Abs. 1 2. Alt.,
Auszüge:

[...]

Er ist als Antrag nach § 123 Abs. 1 VwG Q statthaft, weil ein (Eil)Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO - wie das Gericht bereits entschieden hat (Beschl v. 16. März 2016 - 2 L 344/16.A) - aufgrund der Nicht-Einhaltung der Klagefrist in der Hauptsache keinen Erfolg mehr haben kann. Der Antragsteller kann daher die in der Sache geltend gemachten Einwendungen gegen die aus § 34a Abs. 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung nur noch geltend machen, indem er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellt und im Hauptsacheverfahren gegebenenfalls im Wege der Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO eine Sachentscheidung erzwingt. Der dem systematisch entsprechende statthafte Antrag Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist dann ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Sicherung des geltend gemachten Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, mit dem eine vorläufige Verhinderung der angeordneten Abschiebung erreicht werden soll. indem der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsträgerin des Bundesamtes aufgegeben wird, der für die Abschiebung zuständiger Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht aufgrund der früheren Mitteilung und der Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid [vom] abgeschoben werden darf (vgl. nur BayVGH, Beschl. v 14. Oktober 2075 - 10 GE 15.2165 u.a. -, juris; VG Stade Beschl. v 13. Juli 2015 – 1 B 1376/16 - juris).

Für diesen Antrag besteht auch ein Rechtschutzbedürfnis, obwohl der Antragsteller nicht zuvor einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt hat. Eine vorherige Antragstellung ist entbehrlich, wenn - wie hier im Hinblick auf die für den morgigen Tag angekündigte Abschiebung - eine besondere Dringlichkeit besteht (vgl. Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 29. EGL Oktober 2015, § 123 Rn. 121b). […]

Im Hinblick auf die zeitliche Nähe der dem Antragsteller drohenden Abschiebung lässt sich das Bestehen eines (Anordnungs-)Anspruchs des Antragstellers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Sachentscheidung über seinen Asylantrag durch die Antragsgegnern nicht abschließend feststellen. Auf Grundlage der deshalb (vgl. oben) anzustellenden Folgenabwägung war die beantragte einstweilige Anordnung zu erlassen. Hierbei berücksichtigt das Gericht, dass auf Seiten der Antragsgegnerin letztlich allein eine formale Rechtspositionen - nämlich die Frage, ob die Antragsgegnerin oder Ungarn für eine Sachentscheidung über den Asylantrag des Antragstellers zuständig ist - betroffen ist. Bei ihrer tatsächlichen Durchführung beträfe - und verletzte (vgl. unten) - die Abschiebung hingegen grundlegende grundrechtliche Belange des Antragstellers, namentlich solche, die durch Art. 1 Abs. 1 GG. Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh geschützt werden. Denn nach ständiger Rechtsprechung der Kammer ist auf Grundlage der Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn davon auszugehen, dass das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn systemische Mängel i.S.v. Art. 3 Abs. 2 2 UA Dublin III-VO aufweisen, aufgrund derer dem Kläger im Falte der Rückführung nach Ungarn die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. VG Münster, Urteil vom 19. November 2015 - 2 K 2131/15.A -, juris). [...]

Zwar war die Kammer aus prozessualen Gründen gehindert, diesen Umständen und den durch sie im Falle einer Abschiebung berührten grundrechtlichen Belangen des Antragstellers in den bisher anhängig gewesener Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO Geltung zu verschaffen, weil der Antragsteller die Frist zur Erhebung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 19. Februar 2016 versäumt hat und dieser daher in Bestandskraft erwachsen ist. Das enthebt jedoch weder die Antragsgegnerin noch die Ausländerbehörde des Kreises Coesfeld davon, diese Umstände bei der Entscheidung zu berücksichtigen, ob eine Abschiebung tatsächlich durchzuführen ist, und verpflichtet sie, ggf. auf die Durchführung einer Abschiebung zu verzichten. [...]