VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 21.12.2016 - 2 K 637/16.A - asyl.net: M24779
https://www.asyl.net/rsdb/M24779
Leitsatz:

1. Bei der Entscheidung über eine Untätigkeitsklage muss das Verwaltungsgericht im Rahmen eines Asylfolgeverfahrens - im Unterschied zum Asylerstverfahren - Spruchreife herstellen (also "durchentscheiden"), wenn die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG erfüllt sind.

2. Zuerkennung von subsidiärem Schutz für einen arabischstämmigen Iraker aus Mosul, der sich im Folgeverfahren auf den Einmarsch der Truppen des IS bezogen hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Mosul, Islamischer Staat, subsidiärer Schutz, Asylfolgeantrag, Durchentscheiden, Untätigkeitsklage, Spruchreife, Asylfolgeantrag, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 71, VwVfG § 51
Auszüge:

[...]

Die Klage ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt (teilweise) unzulässig, dass der Kläger mit seinem Antrag nicht nur die Verpflichtung der Behörde, seinen Folgeantrag endlich zu verbescheiden, geltend macht, sondern eine Durchentscheidung im Hinblick auf sein materielles Begehren (u.a. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) anstrebt. Das Gericht sieht sich auch angesichts der Besonderheiten des Asylverfahrens nicht gehindert, in der Sache durchzuentscheiden. Im Einklang mit der von der Beklagten in ihrer Klageerwiderung selbst vertretenen Rechtsauffassung fehlt einer Klage nach § 75 VwGO auf Verbescheidung das Rechtsschutzbedürfnis, wenn sie auf eine gebundene Entscheidung gerichtet ist, der kein Ermessens-, Beurteilungs- oder Bewertungsspielraum innewohnt. Im Asylverfahren sind überwiegend gebundene Entscheidungen zu treffen. Das gilt insbesondere auch im Hinblick auf das Folgeantragsverfahren des Klägers.

Soweit in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten wird, die Besonderheiten des Asylverfahrens führten dazu, dass bei einer Untätigkeit des Bundesamtes im Folgeantragsverfahren keine Spruchreife durch das Gericht herbeizuführen sei (vgl. etwa VG Ansbach, U. v. 28.01.2014 - AN 1 K 13.31136 -, juris), folgt das erkennende Gericht dem hier nicht. Abgesehen davon, dass § 75 VwGO uneingeschränkt auch bei asylrechtlichen Klagen gilt und der Asylgesetzgeber keine andere Handhabung wegen der Besonderheiten des Asylverwaltungsverfahrens in seine Regelungen zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgenommen hat, handelt es sich vorliegend um einen Folgeantrag nach § 71 Abs. 1 AsylG.

Soweit in der Rechtsprechung ein Durchentscheiden des Verwaltungsgerichts bei einer Untätigkeit des Bundesamtes abgelehnt wird, liegt der innere Grund hierfür darin, dass sowohl das europäische als auch das nationale Recht der Durchführung des Verwaltungsverfahrens durch das allein zuständige und mit besonderer Sachkunde ausgestattete Bundesamt (vgl. § 5 Abs. 1 AsylG) eine eigenständige und wesentliche Bedeutung beimessen. Einem Antragsteller ginge, holte die Beklagte die Sachentscheidung nicht nach, eine mit umfassenden Verfahrensgarantien ausgestattete Tatsacheninstanz verloren (vgl. ausführlich VG Düsseldorf, U. v. 21.10.2016 - 17 K 3177/15.A -, juris m.w.N.). In diesen Fällen sei daher eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass das Gericht die Spruchreife herzustellen habe, zu machen. Vielmehr bestehe dann lediglich ein Anspruch auf eine Verpflichtung der Beklagten zur Entscheidung über den Asylantrag (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Ein solcher Ausnahmefall liegt jedoch bei einem Folgeantrag nicht vor. Vielmehr muss das Gericht, das im Asylfolgeverfahren angerufen wird selbst eine Entscheidung in der Sache treffen, wenn die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG erfüllt sind. Es ist nicht ersichtlich, dass dies im Falle einer Untätigkeitsklage nicht gelten sollte. Da der Kläger im Rahmen der Untätigkeitsklage selbst die gerichtliche Entscheidung in der Sache beantragte, überzeugt das Argument, dass bei einem "Durchentscheiden" des Gerichts dem Kläger eine Tatsacheninstanz verloren ginge, nicht (vgl. VG Regensburg, U. v. 16.02.2015 - RO 4 K 14.30747 -, juris m.w.N.).

B. Der Folgeantrag des Klägers ist gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG zulässig. Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylerstantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Dies ist vorliegend der Fall. Die Sachlage im Heimatland des Klägers hat sich nach Abschluss seines letzten Asylverfahrens durch das Aufkommen des Islamischen Staates und der Übergriffe seiner Milizen insbesondere in seiner Heimatstadt Mosul, aber auch darüber hinaus in weiten Teilen des Nordirak zugunsten des Klägers i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG maßgeblich verändert.

C. Der Folgeantrag des Klägers ist im Hinblick auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes begründet, im Übrigen unbegründet.

1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes liegen vor.

Ein Ausländer erhält gemäß § 4 Abs. 1 AsylG subsidiären Schutz wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt neben der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe und der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Letzteres ist hier der Fall, denn dem Kläger droht im Falle seiner Rückkehr In den Irak eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Insoweit steht ihm auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung, da er über keine verwandtschaftlichen oder sonstigen Beziehungen im Irak verfügt, die es ihm ermöglichen könnten, zumindest sein Existenzminimum zu sichern. [...]